Am 15. August 2020 feiert Polen das 100. Jubiläum der Schlacht von Warschau, eines der für die Polen wichtigsten Ereignisse im polnisch-sowjetischen Krieg von 1919 bis 1921. Doch wieso ist dies in Polen so wichtig?
Weite Teile des vorliegenden Beitrages sind der Arbeit „Polen und die Russische Föderation – ewige Feinde? Ein Psychogramm der polnischen Außenpolitik seit 2015“ des Autors vom 17.09.2020 entnommen.
Wenn auch heute im restlichen Europa weitgehend in Vergessenheit geraten, so ist dieser Konflikt für das Selbstverständnis des modernen Polens konstitutiv. Der Historiker Stephan Lehnstaedt stellte 2019 zutreffend fest: „Nach wie vor ist der Polnische-Sowjetische Krieg von zentraler Bedeutung für das Verständnis und Selbstverständnis unserer Nachbarn“. Meistens wird der Konflikt auf den April 1920, als polnische Truppen in die Ukraine einmarschierten, oder auf den Februar 1920, als polnische Verbände Vilnius angriffen, datiert.
Mit dieser Datierung wird oft eine polnische Aggression suggeriert und Polen als alleiniger Kriegstreiber dargestellt. Doch tatsächlich kam es bereits im Januar 1919 zu Gefechten polnischer und sowjetischer Verbände, als die Rote Armee Vilnius, das bis dahin von Polen besetzt war, angriff und diese vertrieb. Für Polen markiert dies den Kriegsbeginn. Zumindest lässt sich objektiv festhalten, dass es 1919 zu Gefechten zwischen Polen und Sowjetrussland kam, die nach und nach zu einem Krieg eskalierten, an dem beide Seiten schuld sind. Man muss bedenken, dass hier zwei unterschiedliche Weltanschauungen aufeinanderprallten. Die Polen träumten unter Piłsudski von einer Wiedererrichtung eines großen, starken polnischen Staates, und Lenins Sowjetrussland wollte Polen als Einfallstor der Weltrevolution nach Europa nutzen, um die bolschewistische Revolution nach Berlin und Paris zu tragen.
Obwohl es zwischenzeitlich danach aussah, dass Polen diesen Krieg verlieren würde, die Rote Armee stand schon vor den Toren Warschaus, so gelang es der polnischen Armee im August 1920 doch, sie in der Schlacht von Warschau (Bitwa Warszawska) zu besiegen. Für das polnische Selbstverständnis ist diese Schlacht bis heute determinierend.
Der damalige britische Botschafter in Berlin, Lord D’Abernon, bezeichnete sie später als die achtzehntwichtigste Schlacht in der Weltgeschichte.
Auch wenn sie als „Schlacht“ in das polnische kollektive Gedächtnis eingegangen ist, so handelte es sich vielmehr um mehrere Kampfhandlungen an mehreren Orten. In Polen hat sich schließlich der 15. August als der „Tag der polnischen“ Armee (święto wojska polskiego) durchgesetzt. Dass die sowjetische Offensive an Warschau scheiterte, hatte viele Gründe, so unter anderem die Entzifferung des sowjetischen Telegrafencodes durch den polnischen Nachrichtendienst oder den Alleingang Stalins, der seine Armee nicht nach Warschau, sondern nach Lemberg schickte, wo es bei Komarów schließlich zur letzten großen Kavallerieschlacht in Europa kam oder die Lieferung von kriegswichtiger Munition aus Ungarn nach Polen. In Polen ist bis heute umstritten, ob Piłsudski selbst überhaupt der Autor des Schlachtplans war.
Fakt ist jedoch, dass die sowjetischen Pläne sich vor Warschau zerschlagen haben. In Folge des polnischen Sieges bei Warschau musste sich die Rote Armee zurückziehen, was die polnische Armee nutzte, um verlorene Gebiete wieder zurückzuerobern.
Das Ergebnis war der Frieden von Riga (18.3.1921), der den Konflikt formal beendete. In Polen ist dieser Sieg Mittelpunkt des Gründungsmythos der Zweiten Republik (1918–1939), der als Wunder an der Weichsel (cud nad wisłą) in das kollektive Gedächtnis eingegangen ist. Für Polen ging es hier nach 123 Jahren der Staatenlosigkeit um Sein oder Nichtsein. Es hat den übermächtigen Gegner wider aller Erwartungen dennoch geschlagen.
Tatsächlich mussten die Bolschewiki ihr Konzept von der Weltrevolution sogar aufgeben und die sowjetische Führung war dazu gezwungen, das Konzept vom „Sozialismus in einem Land“ zu entwickeln.
Darüber hinaus sehen sich die Polen hier als die Retter Europas vor der kommunistischen Invasion. Auch hier findet sich erneut der Mythos von Polen als der antemurale christianitatis, der Vormauer des christlichen Abendlandes, der bei jeder Erinnerung an dieses Ereignis bemüht wird. Der Sieg über die Rote Armee war auch deshalb so wichtig für das polnische Selbstverständnis, da das sowjetische Russland aus der polnischen Perspektive nur eine Fortsetzung der unzivilisierten zarischen Unterdrückungsherrschaft sei. In der Zweiten Republik gab es folglich einen antisowjetischen Konsens, wie Martin Müller-Butz in seiner Dissertation 2019 treffend feststellte.
Tatsächlich kann die Bedeutung dieses Konfliktes für das Polen der Zwischenkriegszeit (1919–1939) kaum hoch genug eingeschätzt werden, denn er bestimmte nahezu das gesamte politische Leben der Zweiten Republik, ihre Gesellschaft und ihre Institutionen.
Dieser Mythos verband sich mit der Darstellung der Polnischen Legionen im Ersten Weltkrieg und machte Piłsudski zur zentralen mythischen Figur der Zweiten Republik, zum Bezwinger Russlands und Befreier Polens. Als er 1935 starb, wurde sein Körper einbalsamiert und in der Königsgruft des Krakauer Wawelschlosses begraben, hier liegen alle polnischen Könige. Sein Gehirn wurde in Warschau eingelagert und sein Herz in Vilnius beigesetzt. Es war ein letztes symbolisches Aufleben der polnisch-litauischen Adelsrepublik. Mit Piłsudski starb wahrscheinlich der letzte Verfechter einer Staatsidee, die im 20. Jahrhunderts längst aus der Zeit gefallen war.
Der Mythos um die Schlacht von Warschau, er bleibt auch weiterhin aktuell für unsere Nachbarn. Nur wenn man sich mit der Geschichte des 15. August als Feiertag in Polen beschäftigt, kann man das polnische Selbstverständnis begreifen.
Jonas Kolecki
15.08.2020