„Rückblicke über die Brücke. Betrachtungen eines polnischen Grenzgängers“
Der amerikanische Anthropologe Jared Diamond schrieb einmal:
„Als ich in Neuguinea von Tal zu Tal wanderte, warnten mich Menschen, die selbst Kannibalen waren und noch vor einem Jahrzehnt in der Steinzeit gelebt hatten, regelmäßig vor den unsagbar primitiven, abscheulichen und kannibalistischen Sitten der Menschen, denen ich im nächsten Tal begegnen würde“.
Er erzählte auch, dass ihn alle diesen angeblichen Kannibalen sehr gastfreundlich oder sogar ausgesprochen herzlich empfangen haben.
Ja, meine Damen und Herren, der Nachbar in unseren Augen…
Offensichtlich sind wir als Lebewesen durch die Evolution vorbelastet und tendieren dazu, den Nachbarn in möglichst schwarzen Farben zu malen, uns selbst aber als unbefleckte Wesen darzustellen. Zumal hat diese Einstellung einen realen Grund: Jahrtausende lang gehörte es zur Normalität des Lebens, dass die Menschengruppen (Stämme, Völker und Staaten) ihre Territorien auf Kosten der Nachbarn ausdehnten. Krieg und Geschichte waren unzertrennliche Phänomene.
Mit dieser Vorbelastung, in ihrer krassesten Form, begann nach dem Zweiten Weltkrieg die neue Nachbarschaft zwischen Deutschen und Polen. Sie hatte viele politische Facetten (zwei deutsche Staaten, Wandel der gesellschaftlichen Systeme, den Wandel der politischen Großwetterlage in Europa und schließlich den europäischen Einigungsprozess), aber der Leitfaden und zugleich der Anker für die nachbarschaftlichen Beziehungen war das psychologische Verhältnis zu dem Nachbarvolk.
Trotz der biologischen Vorbelastung, trotz der politischen Wenden, Vorwärtsbewegungen und Rückschritten, gab es eine kontinuierliche Entwicklung von Misstrauen oder selbst Hass zur Offenheit, Neugierde oder gar Sympathie.
Ich bin Ende der 50-er Jahre geboren. In meiner Kindheit und in der Schulzeit wurde ich allzu oft mit dem Bild der Deutschen konfrontiert. Dieses Bild war ziemlich homogen und bestand nur aus negativen Elementen. Ich kann ruhig sagen, dass für mich zu Beginn meines Lebens die Deutschen das reine Böse dieser Welt verkörperten.
Vor zwei Jahren las ich 150 Essays, die jungen Polen (zwischen 18 und 28 Jahren) im Rahmen des Deutsch-Polnischen Jahres über das deutsch-polnische Verhältnis geschrieben haben. In diesen Essays fand ich keine Denkmuster aus meiner Kindheit!
Nur in einem Essay wurde Auschwitz beschrieben, nur in einigen der Zweite Weltkrieg erwähnt. Die restlichen 140 schilderten die westlichen Nachbarn der Polen als Menschen, die zwar ihre komische Eigenart haben, aber hilfsbereit und fürsorglich sind. Viele junge Menschen behaupteten, sie sähen keinen Unterschied zwischen sich selbst und den deutschen Gleichaltrigen.
Der Segen der späten Geburt beschleunigt diesen Prozess wesentlich. Die älteste und mittlere Generation mussten diesen Prozess auf eine komplizierter, manchmal schmerzhafte Weise erleben. Am eigenen Leibe habe ich erfahren, was es bedeutet, das Bild des Fremden zu revidieren. Es bedeutet vorwiegend, sein eigenes Bild ändern zu müssen. Um den Fremden zu verstehen, muss man mit dessen Augen auf die Welt schauen, und dann sieht man sich selbst unter Umständen als den besagten abscheulichen Kannibalen. Es sind unangenehme Momente, vor denen viele zurückschrecken und lieber in der familiären Welt der alten Vorstellungen verbleiben.
Aber selbst dann bewirken die Zeit und das mechanisch ablaufende Nebeneinander Wunder. In fast 20 Jahren, die ich an der deutsch-polnischen Grenze verbracht habe, sah ich den Wandel der Einstellungen zum Nachbarn.
Die durch unterbewusste Berührungsängste geprägte Distanz der Polen ist einer offenen, pragmatischen Einstellung gewichen, die Überlegenheitsgefühle der Deutschen („Wissen Sie, Herr Wojciechowski, wenn man die Grenze nach Polen überschreitet, erlebt man einen Kulturschock!“) verwandelten sich in ein zwar kritisches, aber doch in ein Verhältnis auf gleicher Augenhöhe. Bei mir lässt die Normalität langsam das vor 20 Jahren dominierende Gefühl verschwinden, ich sei als Pole auf der deutschen Seite der Grenze unerwünscht und als ein „angelernter Preuße“ auf der polnischen Seite für meine Landsleute unerträglich.
In diesem Prozess der Annäherung und der Normalisierung haben natürlich auch die deutsch-polnischen Gesellschaften einen großen Anteil. Die Welt dieser Gesellschaften ist stark differenziert. Aber in der Landschaft der deutsch-polnischen Gesellschaften ragt die Deutsch-Polnische Gesellschaft Berlin wie etwa der Kilimandscharo über der tansanischen Steppe empor. Aus der Sicht des an der Oder lebenden Grenzgängers überragt dieser Koloss die übrige Landschaft. Neun von zehn Mails, die von deutsch-polnischen Gesellschaften an meine Institution, das Collegium Polonicum geschickt werden, kommen von der DPGB, genauer gesagt aus der Hand von Herrn Schröter. Sechs von zehn Einladungen zu deutsch-polnischen Events in Deutschland kommen ebenfalls aus dieser Quelle.
Möchte man die geologische Metapher weiter ausbauen, müsste man sagen, dass der DPGB-Berg einen rauchenden Schröter-Krater hat. Das Schöne ist, dass denjenigen, der unter diesem Vulkan lebt, nichts Lebensbedrohliches erwartet, sondern er viel mehr nur eine E-Mail-Flut zu befürchten hat.
Jetzt aber zum deutsch-polnischen Verhältnis zurück. Ein deutsch-polnischer Grenzgänger sieht ganz genau, dass der Prozess der deutsch-polnischen Annäherung und Normalisierung, trotz des Engagements von Tausenden Menschen guten Willens, seine Limits hat.
An dem bereits erwähnten Schreibwettbewerb für junge Leute im Rahmen des Deutsch-Polnischen Jahres haben nur 30 junge Deutsche teilgenommen. Sollte das als Maßstab des gegenseitigen Interesses gelten, so ist das Interesse der Deutschen an den Polen fünf Mal geringer als das der Polen an den Deutschen. Dieses Verhältnis wird in vielen Bereichen des Lebens wahrgenommen und meistens moralisch als Vorwurf gegenüber den Deutschen thematisiert. Sie möchten doch bitte Polen mehr Interesse schenken oder wenigstens etwas tun, das das Interesse der deutschen Öffentlichkeit fördert. Es ist zwar eine edle Haltung, aber realistisch gesehen haben wir im Falle Deutschlands und Polens mit einem weltweiten Problem zu tun.
Die Beziehungen zwischen großen und kleinen Nachbarn sind asymmetrisch und diese Asymmetrie betrifft vor allem das kollektive Selbstwertgefühl. Selbst wenn sich der große Nachbar redlich bemüht, den kleineren angemessen wahrzunehmen, fühlt sich der kleinere sehr oft ignoriert, missverstanden, gedemütigt oder gar bedroht. Um die Verluste seines Selbstwertgefühls auszugleichen, protestiert der Kleinere lautstark, unterstellt dem Großen unschöne Motive, sucht seltsame Allianzen einen Rang höher und verhält sich generell „problematisch“. Wenn ich an „meiner“ deutsch-polnischen Grenze in den letzten Jahren über etwas gestaunt habe, dann über diese Dinge. Früher hätte ich nie gedacht, dass eine Hand voll Männer, Preußische Treuhand genannt, mit ihrer absurden Idee, man könnte nach 60 Jahren die Rückgabe von einem Drittel des Nachbarstaates verlangen, diesen Nachbarstaat monate- oder gar jahrelang in Atem halten könnten.
Ich staune auch wie stark heute selbst junge Polen mit Empörung auf deutsche Werbespots reagieren, in denen salopp mit nationalen Symbolen umgegangen wird.
In der friedlichen und relativ wohlhabenden Welt, in der wir leben, ist die Beherrschung der Verhältnisse groß – klein, die Regulierung der Zirkulation des Selbstwertgefühls im komplizierten System globaler Verbindungen von allergrößter Bedeutung.
Das ganze Übel, mit dem wir heutzutage zu tun haben (internationale Spannungen, Separatismus und Terrorismus) resultiert daraus, dass sich die Menschen oder einzelne Gruppen nicht genug beachtet oder respektiert fühlen. Die Menschen also, die über die Grenzen, über die Schranken der Kulturen, über die Barrieren in den Köpfen und über die Mauern des Unwissens hinaus Informationen über Nachbarn bringen können, als Salz dieser Erde bezeichnet werden. Paradoxerweise erleichtert ihnen die offene, mediale Welt die Aufgabe in keiner Weise. Der freie Fluss von Informationen und Bildern ist keineswegs ein Vehikel für Gleichheit der Kulturen und Offenheit der subjektiven Welten. Es ist ein starker Strom, der Informationen, Bilder und Werte von den Zentren der Zivilisation mit der Wucht einer Lawine in Richtung Peripherien transportiert. Die mittelgroßen und kleineren Völker fühlen sich durch diese Lawine zugeschüttet. Es sind ausschließlich Menschen, Menschen aus Fleisch und Blut, die dieser Lawine trotzen können. Menschen, die die Nachbarn besuchen, Begegnungen organisieren, Ausstellungen initiieren, Texte übersetzen und generell kleine, wertvolle Dinge in die Alltagswelt des Nachbarn durchschmuggeln. Solche Schmuggler, ihre 35-jährige Tätigkeit in Berlin, feiern wir heute.
Die Deutsch-Polnische Gesellschaft Berlin, mit dem unermüdlichen Schröter-Krater on top, hat in den letzten Jahrzehnten Hunderte von Veranstaltungen: Vorträge, Diskussionen, Ausstellungen, Konzerte, Exkursionen, Konferenzen und Ähnliches organisiert, um aus zwei ungleichen, zwei gleiche Nachbarn zu machen. Ihre manchmal spektakuläre, manchmal im Schatten verbleibende Arbeit ist einer der psychologischen Bausteine des gemeinsamen Europa und – wollen wir hoffen – einer friedlichen und harmonischen Welt. Möge in der Zukunft ein Anthropologe schreiben: „Als ich durch Mitteleuropa von Land zu Land wanderte, sagten mir die Menschen, die noch vor ein paar Jahrzehnten ihre Nachbarn gehasst haben: ‚Du musst unbedingt über die Grenze rüber! Dort leben freundliche, aufgeschlossene, interessante Leute, die genauso gutes Bier und genauso schöne Lieder haben wie wir. Und grüße sie von uns, denn das sind unsere Freunde!"