Artikel 1 Abs. 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland sagt ganz klar aus: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Eingedenk der jüngeren deutschen Geschichte ist das ein unglaublich wichtiger Satz. Auch die polnische Verfassung kennt einen solchen Artikel, nämlich den Artikel 30.
Ein Kommentar von Jonas Kolecki
Artikel 31 Abs. 3 sagt darüber hinaus aus, dass die in der Verfassung festgeschriebenen Freiheiten und Rechte nur beschränkt werden dürfen, wenn eine Gefahr für den demokratischen Staat oder die öffentliche Sicherheit vorliegt.
Komplettiert wird dies durch Artikel 32, nach dem jeder Bürger das Recht auf gleiche Behandlung durch die öffentliche Verwaltung hat und niemand aus welchem Grund auch immer im öffentlichen oder politischen Leben diskriminiert werden darf.
Doch die aktuell regierende PiS scheint sich nicht viel um diese Artikel der polnischen Verfassung zu scheren.
Immer mehr polnische Gemeinden erklären sich selbst zu „LGBT-freien Zonen“. In den amtlichen Begründungen wird in der Regel mit dem Schutz der Kinder vor dieser „Ideologie“ argumentiert, denn der kinderlose, ledige Katzenliebhaber Jarosław Kaczyński weiß natürlich am besten was für Kinder gut ist. In einigen offiziellen Begründungen polnischer Gemeinde-, Kreis- oder Woiwodschaftsvertretungen wird sogar der Begriff „Homopropaganda“ verwendet.
Dabei waren die Homosexuellen für die PiS von Beginn an ein Feindbild, das in den staatlich kontrollierten Medien als eine Art fünfte Kolonne dargestellt wurde (natürlich von deutschen Parteien finanziert), die Polen von Westen her bedrohe.
Ein Abgeordneter der Regierungspartei Verständigung (Porozumienie), Jacek Żalek, ging sogar so weit zu sagen: „LGBT, das sind keine Menschen, das ist eine Ideologie“, was sogar bei uns in Deutschland verwundert registriert wurde.
Auch Staatspräsident Andrzej Duda, der am 28. Juni wiedergewählt werden will, äußerte sich ähnlich. Er unterschrieb zudem die sog. Familiencharta, die polnische Familien, besonders die Kinder, vor der „LGBT-Ideologie“ schützen soll. Dieses Dokument ist eine fundamentale Absage an die Rechte und die Gleichberechtigung von Homosexuellen.
Als Reaktion auf die Kritik an diesem Dokument entgegnete er mit einem Vergleich zur Indoktrination von Kindern im Kommunismus und bezeichnete die LGBT-Bewegung als „eine Art Neokommunismus“. Man muss sich hier noch einmal vergegenwärtigen, dass hier der Präsident der Republik Polen spricht.
Man stelle sich nur einmal vor, der Bundespräsident würde sich ähnlich äußern.
Wenn wir derzeit betrachten, was in unserem Nachbarland geschieht, dann muss es uns kalt den Rücken herunterlaufen … eine Gruppe der Bevölkerung gezielt demonstrativ als etwas zu brandmarken, das man nicht haben will, das weckt bei uns Erinnerungen an die schlimmsten Momente unserer jüngeren europäischen Geschichte. Bei dieser von der Regierungspartei forcierten großangelegten Diskriminierungskampagne handelt es sich um eine zivilisatorische Grundsatzentscheidung … in die falsche Richtung.
Bezeichnend ist auch, dass Präsident Duda erst von diesen Ausfällen abrückte, als er mit ihnen das Verhältnis zwischen Polen und den USA zu stören drohte. Hätte es eine so klar ablehnende Haltung gegenüber den Äußerungen Dudas nicht gegeben, wäre er wohl kaum von ihnen abgerückt.
Betrachtet man das Mindset der PiS, so ist dies gleich dreifach entlarvend:
- Man sieht die USA als den einzigen Schutz vor der Russischen Föderation und kann es sich mit ihnen daher nicht verscherzen.
- Man hasst die Russische Föderation, teilt aber die gesellschaftlichen und politischen Werte, auf denen diese kleptokratische Pseudodemokratie aufbaut.
- Polen entfernt sich immer weiter von den Werten der EU, zu denen es sich mit dem Beitritt 2004 bekannt hat. Gleichzeitig sieht die PiS Polen dabei als Bollwerk gegen eine Art moralisch-sittlicher Bedrohung, der es sich, wie 1683 den Osmanen und 1920 der sowjetischen Roten Armee, entgegenstellen müsse. Bereits damals seien die dekadenten Länder des Westens Polen nicht dankbar gewesen, obwohl Polen doch das christliche Europa (und sogar die Welt!) gerettet habe. Somit sei dies ein antipolnisches Missverständnis.
Ein Missverständnis liegt hier tatsächlich vor, jedoch nicht, weil die restlichen EU-Staaten die guten Absichten Polens nicht verstehen würden, sondern weil das Polen der PiS anscheinend aufgehört hat, die europäischen Werte zu verstehen!
Es ist offensichtlich, dass die PiS im Hinblick auf die Kontrolle von Gesellschaft und Politik die Einführung russischer Verhältnisse in Polen anstrebt, wenngleich sie hier mit einer deutlich stärkeren Zivilgesellschaft konfrontiert ist.
Die Einführung von LGBT-freien Zonen stellt einen fundamentalen Bruch der Werte unserer freiheitlichen und pluralistischen Gesellschaften dar, auf denen die europäische Wertegemeinschaft gründet. Rund 100 dieser zivilisationsfreien Zonen gibt es jetzt schon in Polen und wahrscheinlich werden es noch mehr werden.
23.06.2020