Die Ausgangslage: Der Sejmmarschall hatte den Termin für die Präsidentenwahl entsprechend den dafür vorgesehenen verfassungsrechtlichen Fristen auf den 10. Mai 2020 festgelegt
Wegen der starken öffentlichen Kritik an der Abhaltung von Wahlen zur Zeit der Coronakrise brachte die PiS-Fraktion zunächst einen Gesetzentwurf für die Durchführung dieser Wahl ein, wonach über 60-jährige Wähler per Briefwahl abstimmen, die anderen wie üblich in Wahllokalen. Dieses Gesetz wurde am 31. März verkündet.
Wegen der Verschärfung der Coronakrise brachte die PiS-Fraktion am 6. April einen neuen Gesetzentwurf mit einem geänderten Wahlmodus ein, der ausschließlich die Briefwahl vorsieht. Ferner wird dem Sejmmarschall vorbehalten, den Wahltermin innerhalb der verfassungsrechtlichen Möglichkeiten zu verschieben, d. h. spätestens auf einen „freien Tag“ vor dem 25. Mai 2020. Dieses Gesetz wurde noch am selben Tag von der PiS-Mehrheit im Sejm beschlossen und dem von der Opposition beherrschten Senat vorgelegt. Dieser nutzte die ihm nach der Verfassung zustehende Entscheidungsfrist von 30 Tagen voll aus und übersandte dem Sejm seinen ablehnenden Beschluss erst am 6. Mai, dem letzten Tag dieser Frist.
Für die Schlussabstimmung im Sejm drohte der PiS-Fraktion eine Niederlage. Gowin, der Vorsitzende der zugehörigen kleinen Gruppe der Partei „Porozumienie“ lehnte zusammen mit einem Teil dieser Gruppe die Durchführung der geplanten Wahl unter den obwaltenden Umständen ab, sodass die PiS-Mehrheit im Parlament für die am 6. Mai vorgesehene Abstimmung nicht mehr gewährleistet war.
Daraufhin verständigten sich Kaczyński, der starsinnig bis zuletzt am Wahltermin 10. Mai festgehalten hatte, und Gowin am selben Tag auf eine Verschiebung der Präsidentenwahl. Dieser „Pakt“ hat folgenden Wortlaut:
„In Verbindung mit der Ablehnung aller konstruktiven Vorschläge zur Ermöglichung der Durchführung der diesjährigen Präsidentenwahlen an einem verfassungsrechtlichen Termin bereiteten die Partei ‚Prawo i Sprawiedliwość‘ sowie die Partei ‚Porozumienie‘ Gowins eine Lösung vor, die den Polen die Teilnahme an demokratischen Wahlen ermöglichen soll.
Nach Ablauf des Termins am 10. Mai 2020 sowie der vorgesehenen Feststellung des Obersten Gerichts über die Unwirksamkeit der Wahlen wegen ihrer Nichtdurchführung gibt der Sejmmarschall neue Präsidentenwahlen zum ersten möglichen Termin bekannt.
Die von der staatlichen Wahlkommission durchzuführenden Wahlen werden im Hinblick auf die Sicherheit der Polen wegen der Epidemiesituation als Briefwahl durchgeführt. Porozumienie Jarosław Gowins verpflichtet sich zur Unterstützung eines Gesetzes über besondere Grundsätze für die Durchführung allgemeiner Wahlen für den Präsidenten der Republik Polen, die in 2020 durchgeführt werden, und gleichzeitig dazu, nur in Abstimmung mit Prawo i Sprawiedliwość Vorschläge zu ihrer Novellierung einzubringen.”
Am 7. Mai beschloss der Sejm das Gesetz über die ausschließliche Briefwahl mit Zustimmung auch der Abgeordneten von Porozumienie, das am 8. Mai in Kraft getreten ist.
Die rechtsstaatliche Entwicklung in Polen ist nach alledem soweit herunter gekommen, dass zwei Parteivorsitzende und einfache Abgeordnete einen in Übereinstimmung mit der Verfassung festgelegten Wahltermin wirksam verschieben und dabei eine Entscheidung des Obersten Gerichts vorwegnehmen können. Der „Pakt“ ist dann sogleich umgesetzt worden. Vermutlich hat der dafür zuständige Minister Sasin die Post angewiesen, die für die Wahl am 10. Mai vorbereiteten Wahlunterlagen den Wahlberechtigten nicht zuzustellen.
Dies alles muss man als Chaos und absolut absurdes Theater bezeichnen. Das aber geht noch weiter. Die Vorsitzende der dafür zuständigen neuen, durch die PiS-Gesetzgebung geschaffenen und vom PiS beherrschten Landesjustizrat besetzte Kammer für außergewöhnliche Kontrolle des Obersten Gerichts, Lemańska, ließ verlauten, es sei keinesfalls sicher, dass die Kammer die Ungültigkeit der Wahl feststellen werde, ja es gebe dafür möglicherweise gar keine gesetzliche Grundlage.
Daraus versuchten nun diejenigen PiS-Politiker, die unbedingt die Wahl durchführen wollten, wozu vor allem Duda und Ziobro gehörten, die Bestimmung eines neuen verfassungsrechtlich noch möglichen Wahltermins am 17. oder 23. Mai gegen den „Pakt“ durchzusetzen. Gowin und seine Anhänger bestanden jedoch auf dessen Einhaltung und drohten mit der Aufkündigung der Koalition, was den Verlust der Mehrheit für PiS im Sejm zur Folge gehabt hätte. Das wollte der schwankende Kaczyński nun doch nicht und die Wahl wurde nun endgültig abgesagt.
Tatsächlich würde die Verschiebung des Wahltermins auf längere Zeit den Interessen der Opposition dienen. Denn die wirtschaftliche Lage in Polen könnte sich aufgrund der Coronakrise erheblich verschlechtern, insbesondere durch den Eintritt hoher Arbeitslosigkeit. Das ist genau die Lage, die Kaczyński und PiS verhindern wollten. Die erheblich mitentscheidende Rolle des Senats an dieser Entwicklung zeigt, dass die Erringung der Mehrheit in der zweiten Kammer durch die Opposition von erheblicher Bedeutung ist (wie ich in meinem neunten Bericht bereits ausgeführt hatte). Die Verschiebung der Präsidentenwahl ist eine blamable Niederlage Kaczyńskis und ein herber Rückschlag der PiS-Bewegung für ihre autoritären Ziele. Sein fanatischer Wille, um der Machtsicherung willen gegen alle Vernunft die Wahl doch noch im Mai durchführen zu lassen, hinderte ihn daran, ohne Gesichtsverlust darauf hinzuwirken, dass die Wahl durch die Erklärung des Ausnahmezustands oder des Katastrophenzustands wegen der Coronakrise abgesagt wird, weil die Verfassung Wahlen in dieser Zeit verbietet.
Nach der Absage der Wahl am 10. Mai hätte man die entstandene schwierige verfassungsrechtliche Situation dadurch beseitigen können, dass nunmehr doch noch der Ausnahmezustand oder der Katastrophenzustand erklärt wird. Aber der Wille Kaczyńskis und seiner Partei, möglichst schnell einen neuen Wahltermin anzuberaumen, weil dies für Duda vorteilhaft sei, bestand fort. So kam es zu einer Fortsetzung des verfassungswidrigen absurden Theaters. Denn das polnische Wahlrechtssystem kennt natürlich keine Regelung für den Fall, dass ein von einem anderen genötigter Parteiführer „seine“ Regierung anweist, eine festgesetzte Wahl zu verhindern. So geschah Folgendes:
Die Staatliche Wahlkommission stellte am 10. Mai „das Fehlen der Möglichkeit einer Stimmabgabe für Kandidaten“ fest. Aber gerade daran fehlte es nicht, gab es doch nicht weniger als zehn Kandidaten. Die Wahlkommission erklärte daher, es müsse die im Wahlgesetzbuch von 2011 vorgesehene Möglichkeit, beim Fehlen von Kandidaten einen neuen Wahltermin durch den Sejmmarschall anzuberaumen, „entsprechend“ auf den vorliegenden Fall angewandt werden.
Der Sejm erließ am 6. Juni eine weitere Wahlrechtsänderung, die dritte innerhalb von zwei Monaten. Nunmehr soll es wieder den bisher üblichen Modus der Wahl in Wahllokalen geben, ergänzt um die Möglichkeit der Briefwahl auf Antrag.
Mit ihrer Anordnung vom 3. Juni, veröffentlicht erst mit dem Inkrafttreten des vorgenannten Gesetzes, setzte die Sejmmarschallin Witek den neuen Wahltermin bereits auf den 28. Juni fest. Sie begründete ihre Kompetenz mit der schon von der Staatlichen Wahlkommission „entprechend“ angewandten Vorschrift über die Ungültigkeit einer Wahl beim Fehlen von Kandidaten.
Es gibt nach alledem genügend Gründe das Ergebnis der zukünftigen Präsidentenwahl anzufechten. Erfahrungsgemäß wird auch PiS nicht davor zurückschrecken, dies im Fall einer Niederlage zu tun. Über Wahlanfechtungen entscheidet die von der PiS-Justizgesetzgebung eingesetzte Kammer für außergewöhnliche Kontrolle und gesellschaftliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts. Die Voraussagen für den Wahlausgang werden nunmehr davon bestimmt, dass die stärkste Oppositionspartei, die Bürgerplattform, den bei städtischen Bürgern populären Stadtpräsidenten von Warschau, Trzaskowski, als Kandidaten aufgestellt hat. Die Prognosen gehen bisher davon aus, dass Duda gegen ihn im zweiten Wahlgang mit geringer Mehrheit gewinnt.
Peter von Feldmann