Polnische Geschichte: »Die Deutschen wissen fast nichts«
Polen sollten den Nazis als Sklaven dienen, der Staat wurde total zerstört, sagt Hanna Radziejowska. Die Leiterin des Berliner Pilecki-Instituts wirft den Deutschen erschütternde Ahnungslosigkeit über ihre östlichen Nachbarn vor.
Ein Interview von Jan Puhl, Spiegel, 30.04.2021
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Die Leiterin des Pilecki-Institutes in Berlin wirft „den Deutschen“ recht allgemein vor, über die Geschichte im Osten Europas und die polnische Geschichte im Besonderen herzlich wenig zu wissen und ahnungslos zu sein.
Wer empirische Forschungen zum Wissen über geschichtliche Themen von Nationalsozialismus oder DDR etc. der letzten Jahre wahrgenommen hat, wundert sich über die Aussage von Frau Radziejowska nicht, sondern eher darüber, dass dies nun in der aktuellen politischen Situation zwischen Deutschland, Polen und Europa so thematisiert wird und fragt sich, was will sie damit bezwecken? Forschungen zum Wissen über Geschichte haben in der Regel gezeigt, dass die Befragten – Schüler, Erwachsenen – in enttäuschender Weise wenig über geschichtliche Themen wissen, das betrifft leider nicht nur die mit Polen verbundene Geschichte.
Im Feld der Geschichtspolitik ist das deutsch-polnische Verhältnis wieder in den Modus des Aufrechnens und Anklagens zurückgefallen, weit hinter den Punkt, an dem die Bischöfe Polens einen Brief an ihre Brüder und Schwestern in Deutschland richteten, in dem sie mit einer großen Geste von Menschlichkeit formulierten: „Wir vergeben und bitten um Vergebung!“ Seitdem haben sich die nachbarschaftlichen Beziehungen auf allen Ebenen weit entwickeln können, bis hin zu einem gemeinsamen Blick auf die Geschichte in dem curricularen deutsch-polnischen Geschichtslehrwerk „Europa. Unsere Geschichte/Europa. Nasza Historia“, das im Schulunterricht eingesetzt werden kann. Aber von der PiS-Regierung in Warschau immer noch nicht zugelassen worden ist. Denn in diesem Lehrwerk wird viel von der gemeinsamen Geschichte dargestellt und dadurch deutlich: Die Untaten der Deutschen und das durch sie hervorgerufene Leid haben solche Dimensionen, dass wir sie weder beziffern noch wiedergutmachen können. Wir können aber auf der Grundlage einer gemeinsamen Sicht und Bewertung dieser Geschichte uns in der Gegenwart für eine bessere Zukunft in Europa einsetzen.
Für dieses Ziel engagieren sich die Deutsch-Polnischen Gesellschaften seit Beginn der 1970er Jahre gemeinsam mit ihren Freunden in Polen. Sie nehmen manches, was sie nun aus Polen hören oder lesen mit Irritation wahr und fragen sich, ob das jahrzehntelange gemeinsame Engagement vielleicht doch nicht so erfolgreich war, wie sie lange dachten. Wir fragen uns heute, was die gemeinsame Geschichte für eine Einwanderungsgesellschaft in Deutschland bedeuten könnte, und wie wir sie im Horizont der europäischen Geschichte verstehen könnten.
In diesem Tagen erinnern wir uns an Karl Dedecius, 1921 in Łódź geboren, den Gründer des Deutschen Polen-Institutes. Dieses Institut macht seit Jahrzehnten polnische Literatur, Kultur und Geschichte in Deutschland bekannt und baut Brücken zwischen den beiden Ländern. Finanziert die polnische Regierung ein vergleichbares Institut?
Die Geschichte können wir nicht überwinden, wohl aber die Art, Geschichte auch heute noch und immer wieder gegeneinander einzusetzen.
Berlin, den 23. Mai 2021
Deutsch-Polnische Gesellschaft Berlin
Christian Schröter, Vorsitzender
Dr. Wolfram Meyer zu Uptrup, Stellv. Vorsitzender
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