Seit dem „Fall Nawalnyj” ist die Debatte um die deutsch-russische Pipeline Nordstream2 unerwartet wieder angestoßen worden und spaltet das politische Berlin, auch innerhalb der Regierungsparteien. Während Außenminister Heiko Maas die Zukunft von Nordstream 2 offen zur Disposition stellt, beharren SPD-Vorsitzender Norbert Walter-Borjans und andere SPD-Granden wie die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, auf dessen Fertigstellung.
Weite Teile des vorliegenden Beitrages sind der Arbeit „Polen und die Russische Föderation – ewige Feinde? Ein Psychogramm der polnischen Außenpolitik seit 2015“ des Autors vom 17.09.2020 entnommen.
Wenig von der deutschen Öffentlichkeit registriert wurde der jüngst von Polens Premierminister Mateusz Morawiecki (PiS) geäußerte Vorschlag, Deutschland solle dieses Vorhaben endgültig abbrechen und dafür mit Lieferungen aus der „Baltic Pipe“ entschädigt werden. Er betonte am 13.09.2020 in der FAZ, Nordstream 2 „sprengt die EU-Energiepolitik von innen“ und forderte mehr europäische Solidarität von der Bundesregierung.
Denn Polen, das schon lange die Energieunabhängigkeit von russischen Rohstoffen als Priorität sieht, könnte dies in naher Zukunft tatsächlich erreichen, wie Experten meinen.
Für die polnische Regierung, aber auch für die Polen, ist Nordstream 2 schon lange eine nicht zu unterschätzende Belastung des deutsch-polnischen Verhältnisses, nicht erst seit der Regierungsübernahme der PiS im Oktober 2015. Denn aus polnischer Perspektive ist Nordstream 2 ein unsolidarischer und im Kern antieuropäischer deutscher Alleingang. Diesen Standpunkt haben nicht erst die nationalkonservativen Regierungen unter Beata Szydło und Mateusz Morawiecki vertreten. Auch innerhalb der polnischen Gesellschaft wird deutsch-russische Gaspipeline mehrheitlich negativ bewertet. Man könnte sogar von einem Anti-Nordstream-Konsens in der polnischen Gesellschaft sprechen.
Doch wieso ist Nordstream 2 für unsere polnischen Nachbarn ein solches Politikum? Dazu ist ein tieferer Blick in die polnische (politische) Psyche nötig.
Der konservative Publizist Stanisław „Cat“ Mackiewicz hat es mitten im Zweiten Weltkrieg so formuliert: „So wie es ökonomische Gesetzte gibt […], so gibt es ein Gesetz der polnischen Politik. Die politische Bedeutung Polens ist eine Funktion der russisch-deutschen Beziehungen. Sind diese Beziehungen schlecht, wächst Polens Bedeutung, es gewinnt politische Unabhängigkeit. Verbessern sich die Beziehungen, verringert sich die Eigenständigkeit der polnischen Politik. Herrscht zwischen ihnen Einigkeit im Handeln, stirbt die polnische Unabhängigkeit.“ Das Dilemma der polnischen Außenpolitik ist es schon immer gewesen, zwischen den übermächtigen Nachbarn Deutschland und Russland eingekeilt zu sein.
Daher reagierte man auch 2005 entsetzt auf die Gaspipeline Nordstream 1 Der damalige polnische Verteidigungsminister Radosław Sikorski verglich sie 2006 sogar mit dem Hitler-Stalin Pakt. Man kann nun einwenden, dass dies ein geschmackloser Vergleich sei, dennoch ist es die gleiche Funktionslogik. Deutsch-russische Sonderbeziehungen waren in der Vergangenheit immer schädlich für Polen. Insbesondere die Okkupation Polens durch NS-Deutschland und die UdSSR hat sich in das Gedächtnis der Polen eingebrannt. Der Osteuropahistoriker Klaus Zernack hat für diese destruktive Politik gegenüber Polen als Basis der preußisch-russischen Zusammenarbeit im 18. Jahrhundert den Begriff negative Polenpolitik geprägt, deren Symbolfigur der preußische König Friedrich II. geworden ist. Diese setzte sich auch nach dem 18. Jahrhundert fort.
Nach dem Wiener Kongress 1815 verband Preußen/Deutschland und das Russische Zarenreich vor allem die gemeinsame Bekämpfung der polnischen Unabhängigkeitsbewegung. Überhaupt blieb die polnische Frage ein stetiges Politikum zwischen den drei Teilungsmächten, besonders zwischen Deutschland und dem Russländischen Reich. Nach dem Ersten Weltkrieg erhielt die antipolnische Komponente der deutsch-russischen/sowjetischen Sonderbeziehungen eine neue Qualität. Denn die Schwächung Polens wurde nach dem Ersten Weltkrieg zu einer Konstante nicht nur der deutschen Außenpolitik, sondern auch der deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit. Die Negation der deutschen-polnischen Grenze blieb das Fernziel der deutschen Politik, auch über Parteigrenzen hinweg. Der Historiker Heinrich August Winkler spricht hier von einem „revisionistischen Konsens“ in der Weimarer Republik.
Nicht einmal Außenminister und Friedensnobelpreisträger Gustav Stresemann, der als Wegbereiter mit dem Locarno-Vertrag 1925 der deutsch-französischen Aussöhnung und der europäischen Einigung in die deutsche Erinnerungskultur eingegangen ist, war bereit, die deutsch-polnische Grenze anzuerkennen. Ganz im Gegenteil: er strebte eine derartige wirtschaftliche und politische Schwächung Polens an, bis dieses schließlich bereit sein musste, ehemalige „deutsche“ Gebiete wieder zurückzugeben.
Er schloss auch 1926 den Berliner Vertrag mit der UdSSR, der die mit dem Vertrag von Rapallo 1922 begonnene wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit der beiden Länder vertiefte. Dieser Vertrag hatte eine klar antipolnische Komponente. Die Zweite Polnische Republik sah sich somit von Beginn an einer sowjetisch-deutschen Umklammerung ausgesetzt, die auf ihre Schwächung oder gar Zerstörung hinarbeitete. Das ist ein Paradebeispiel für die deutsch-russischen/sowjetischen Sonderbeziehungen, die dem von Mackiewicz formulierten Gesetz der polnischen Politik entsprechen, sich in das polnische Gedächtnis eingebrannt haben und heute noch zu den hysterischen Reaktionen auf Nordstream führen. Während die Regierung vor der PiS mit diesem deutsch-russischen Trauma der polnischen Geschichte pragmatisch umging, wurde es unter der germano- und russophoben PiS zu einem Axiom der polnischen Außenpolitik. Es kann daher die These aufgestellt werden, dass die negative Polenpolitik zu einer negativen Russlandpolitik der PiS führt: Die Anbindung Polens an EU und NATO fußt auf dem Ziel einer aggressiven Außenpolitik gegenüber der Russischen Föderation.
Aus polnischer Sicht opfert Deutschland die vitalen Sicherheitsinteressen Polens (und der baltischen Staaten) einer Zusammenarbeit mit der Russischen Föderation. Da es nicht von russischem Gas abhängig sein will, ist Polen ein starker Verfechter der Idee einer europäischen Energieunion und folglich auch einer der exponiertesten Gegner von Nordstream 2, das die PiS ausdrücklich ablehnt. Auch eine Mehrheit der Polen sieht die unterschiedliche Bewertung von Nordstream 2 als ein großes Problem in den deutsch-polnischen Beziehungen. Denn durch die Umsetzung von Nordstream 2. fühlt sich Polen verraten und bekommt das Gefühl, eine konfrontative Außenpolitik betreiben zu müssen, da Deutschland sich nicht sonderlich für die polnischen Sicherheitsbedürfnisse zu interessieren scheint. Das Problem auf deutscher Seite liegt darin begründet, dass man zu wenig über Polen, seine Geschichte und Kultur weiß, das ist wissenschaftlich erwiesen und wurde erst im neusten Deutsch-Polnischen Barometer erneut bestätigt, um die polnische Perspektive nachvollziehen zu können. Daher ist der Titel eines kürzlich erschienenen Artikels der FAS „Polen, das unbekannte Land“ auch 2020 noch präzise.
Bei Nordstream 2 geht es also um viel mehr als um das bloße Bauprojekt wirtschaftlicher Natur, nämlich um grundsätzliche Fragen des Beziehungsdreiecks Deutschland-Polen-Russland, dessen stark emotionale Komponente für die Polen oftmals in der Debatte kaum Beachtung findet.
Jonas Kolecki
17.09.2020