Nach den Radtouren durch das untere Oderbruch 2005 und entlang der alten Oder und durch die Puszcza Piaskowa im Sommer 2006 ist diesmal Küstrin/Kostrzyn und das Gebiet der Warthemündung das Ziel der Sommerradtour des Jungen Kreises. Fünfzehn neugierige Radler zählt das Peloton, das sich aufgemacht hat, ein weiteres Stück entlang der deutsch-polnischen Grenze zu erkunden.
Nach der Anreise mit der Niederbarnimer Eisenbahn ist Küstrin-Kietz der Startpunkt unserer Tour, bis zur Teilung der Stadt nach dem zweiten Weltkrieg ein Vorort Küstrins auf der westlichen Seite der Oder. Dort erwartet uns bereits Herr Rogge, der Vorsitzende des „Vereins für die Geschichte Küstrins“. Im Kulturhaus des kleinen Ortes hat der Verein, der sich die Erforschung und Aufarbeitung der Geschichte Küstrins zum Ziel gesetzt hat, eine Ausstellung mit Bildern und Informationen zur alten preußischen Festungs- und Garnisonsstadt eingerichtet. Die alten Ansichten, Fotos und Stadtpläne lassen eine Stadt vor unseren Augen entstehen, die so nicht mehr existiert.
Nur wenige Fahrradminuten und eine Passkontrolle weiter stehen wir kurz darauf in einer kopfsteingepflasterten Gasse inmitten von Europas wohl größtem Flächenmahnmal, dem „preußischen Pompeji“. Die Bürgersteige rechts und links sind noch erhalten, doch einen Schritt weiter wuchern Bäume und Gebüsch, wo früher Altstadthäuser, Schulen, Rathaus und Schloß standen. Treppenaufgänge verlieren sich nach wenigen Stufen im Nichts, die freigelegten Grundmauern lassen das verlorene Gesicht der Stadt nur erahnen. Zwei Stadttore sind zu einem großen Teil erhalten und werden derzeit saniert.
Herr Rogge berichtet uns, dass aus den Anfang der neunziger Jahre mit entsprechender Medienresonanz verkündeten Wiederaufbauplänen bis heute nichts geworden ist. Ein Investor, der am Rande der Altstadt ein paar historisierte Häuser hingestellt hat, ist pleite. Die Objekte stehen leer. Wer will hier auch schon hin?
Das heutige Küstrin heißt Kostrzyn, und befindet sich knapp einen Kilometer weiter auf dem Gebiet der ehemaligen Neustadt. Wir suchen und finden unser Hotel, das Dom Turysty („Haus des Touristen“), das für die Hungrigen unter uns wahlweise mit einem klassischen „obiad domowy“ oder asiatischer Küche à la polonaise aufwartet. Gut gestärkt schwingen wir uns wieder aufs Rad, auf eine Rundtour um den Nationalpark Warthemündung, die viel länger als gedacht werden sollte….
Erste Station ist Słońsk/Sonnenburg, wo wir mit perfektem Timing in der Kirche des Johanniter-Ordens den einzigen heftigen Regenguss des Tages abwarten. Monika, die gerade ein Tourismus-Praktikum im neben der Kirche liegenden Heimatmuseum macht, zeigt uns das Gewölbe und die Glasfenster. Schräg gegenüber der Kirche stehen nur noch Ruinen vom Johanniter-Schloß, das in den Siebziger Jahren ausgebrannt ist. Bevor es weitergeht, stellt mir Monika noch einen Pass der „Rzeczpospolita Ptasia“, der „Vogelrepublik“ aus. Damit bin ich jetzt auch offiziell berechtigt, die Weißstörche und anderen Wasservögel auf unserem weiteren Weg durch den Nationalpark Warthemündung zu bewundern…
Der Weg ist nun nicht mehr so einfach zu finden. Markierungen fehlen, so dass wir wiederholt die uns begegnenden Bauern fragen, wo es nach Kłopotowo geht. Dort soll es eine Fähre über die Warthe geben. Der Name es Örtchens lässt zwar nichts Gutes ahnen („kłopot“ bedeutet „Sorge“ oder „Problem“) aber man versichert uns, wenn die Fähre nicht mehr fahre sollten wir einfach beim Fährmann klingeln; der wohne direkt daneben. Das ist jedoch nicht nötig: Der Fährmann, ein drahtiger, verschrobener junger Typ, ist noch im Dienst und legt sich kurz darauf mächtig ins Zeug, um uns mit der Seilfähre überzusetzen. Die Fahrt kostet pro Person einen Złoty, ebenso wie für Nutztiere. Wir warten, ob der Fährmann unsere Drahtesel als Nutztiere wertet, doch auf die Idee kommt er nicht.
Kurz darauf hat es Malte erwischt – der erste Platten! Und das mitten in der Pampa… Doch wir haben ja Christa, die Maltes Hinterrad in Rekordzeit zerlegt, eine Pfütze nutzt, um das Loch im Schlauch aufzuspüren und selbiges gekonnt „verarztet“.
Die Sonne nähert sich inzwischen immer mehr dem Horizont. Als wir in Küstrin zurück sind, ist sie bereits verschwunden. Regelrecht ausgehungert finden wir noch eine Kneipe, die auch Pizza im Angebot hat. Als Beilage gibt’s jeweils ein kleines Schälchen mit Krautsalat… eben Pizza à la polonaise… Vom allwöchentlichen Tanzabend in unserem Hotel, der sich gerade dem Höhepunkt nähert, kriegen wir nicht mehr viel mit… Die 60 Kilometer rund um den Nationalpark haben uns doch ganz schön geschafft.
Gut erholt und ausgeschlafen geht es am nächsten Tag wieder zurück über die Grenze. Erster Anlaufpunkt ist heute das Fort Gorgast, eines der vier Außenforts der Festung Küstrin. Gebaut Ende des 19. Jahrhunderts, um die aus immer größerer Entfernung schießenden feindlichen Geschütze auf Distanz zu halten, war das Fort bereits vor seiner Vollendung militärisch nutzlos. Nach dem zweiten Weltkrieg richtete die NVA ein Munitionsdepot ein, das Anfang der Neunziger Jahre von der Bundeswehr geräumt wurde. Heute bemüht sich ein privater Verein um die Erhaltung der Anlage. In den Kasematten fliegen unter der Schirmherrschaft der EU Fledermäuse; ab und an treffen sich Fantasiespieler, die sich ein Wochenende lang im Fort in andere Rollen und Jahrhunderte versetzen.
Zurück im Sattel geht es bei strahlendem Sonnenschein über den gut ausgebauten Oder-Neiße-Radweg gen Süden. Das Anglerheim in Lebus bietet gegrillte Forellen – und lädt zu einer letzten wohlverdienten Pause, bevor wir uns über die Oderwiesen Frankfurt nähern. Im Zug auf dem Weg zurück nach Berlin sind sich alle einig: Ein toller Ausflug! Und schon überlegen die ersten, wo es denn das nächste Mal hingehen könnte …
Roland Hagemeister