2009 – ein deutsch-polnisches Geschichtsjahr
Eine Annäherung zweier nationaler Gedächtniskulturen
von Reinhold Vetter
In Danzig trifft man Vorbereitungen fürs große Weltkriegsgedenken. Dazu zählt die Rekonstruktion des Wachgebäudes, der Kaserne und anderer Einrichtungen des polnischen Munitionsdepots, das bis 1939 auf der Halbinsel Westerplatte an der Hafeneinfahrt bestand. Mit den Schüssen des deutschen Kreuzers „Schleswig Holstein“ auf das Depot hatte in den frühen Morgenstunden des 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg begonnen. Wenig später überfiel eine deutsche Polizeieinheit die polnische Post am Heveliusplatz im Stadtzentrum. Die heldenhafte, aber aussichtslose Verteidigung der Westerplatte und der Post ist bis heute ein zentrales Element des polnischen Geschichtsbewusstseins. Die Bürger Danzigs sind aufgefordert, Fotos aus den ersten Kriegstagen für die Gedenkfeier am 1. September zur Verfügung zu stellen.
Museum des Zweiten Weltkriegs
Zu den Gästen, die an diesem Tag auf der Westerplatte erwartet werden, zählt nicht zuletzt die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie weiß, dass die polnische Regierung dem Gedenken an den deutschen Überfall vor siebzig Jahren große Bedeutung beimisst. Auch Vertreter der drei westlichen Alliierten werden an der Feier teilnehmen. Möglicherweise wird die schwedische Regierung, die im zweiten Halbjahr 2009 die EU-Präsidentschaft ausübt, für den 1. September einen Europäischen Rat in Danzig einberufen.
Schon am 28. Mai soll im Deutschen Historischen Museum eine Ausstellung mit dem Titel „Krieg gegen Polen 1939 bis 1945“ eröffnet werden. Eine weitere Ausstellung, die ebenfalls in Berlin zu sehen sein wird, gilt dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt („Molotow-Ribbentrop-Pakt“) vom 23. August 1939. Nicht bekannt ist bis dahin, wie Warschau den Jahrestag des sowjetischen Einmarsches in Ostpolen am 17. September 1939 begehen wird.
Zentrales Projekt polnischer Geschichtspolitik ist das geplante Museum des Zweiten Weltkriegs, dessen Grundstein ebenfalls am 1. September in Danzig gelegt werden soll. Die Exponate werden sowohl in einem neuen Gebäude im Stadtzentrum als auch in der rekonstruierten Kaserne auf der Westerplatte zu sehen sein. Gründungsdirektor des Museums ist der bekannte Historiker Pawel Machcewicz, der parteipolitisch ungebunden ist, aber seit langem Kontakt zum Danziger Liberalenmilieu um Premier Donald Tusk und dessen Berater Wojciech Duda hält. Insgesamt zwölf Historiker aus Polen, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Russland, den USA und Israel werden den Programmrat des Museums bilden.
Europäische Ausrichtung
Inhaltlich orientieren sich Pawel Machcewicz und sein engster Mitarbeiter Piotr Majewski insbesondere an den Arbeiten des polnischen Historikers Jerzy Holzer, der sich in seinem jüngsten Buch über den Zweiten Weltkrieg mit den Opfern und Leiden der Soldaten und Kriegsgefangenen, der zivilen Bevölkerung, der Inhaftierten von Gefängnissen und Konzentrationslagern sowie der Vertriebenen und Umgesiedelten befasst. Chronologisch und thematisch geordnet sollen die Exponate und deskriptiven bzw. analytischen Elemente des Museums die Vorgeschichte und den Verlauf des Zweiten Weltkriegs erläutern und dabei die zentrale Verantwortung Hitler-Deutschlands für die damalige Tragödie in den Vordergrund stellen, ohne die sowjetischen Verbrechen zu verharmlosen. Allerdings, so Pawel Machcewicz und Majewski, wolle man sich auf keinen Fall in einen Systemvergleich oder eine gegenseitige Aufrechnung der beiden Totalitarismen hineinziehen lassen. Polens Staatssekretär Władysław Bartoszewski, ebenfalls Historiker, sowie einige seiner Fachkollegen wie Tomasz Szarota und Jerzy Borejsza haben sich erfolgreich dafür eingesetzt, dass das Museum ausdrücklich einen europäischen Charakter erhält. Die berechtigte, schwerpunktmäßige Beschäftigung mit dem Leiden der Polen und der Juden, so Minister Bartoszewski, dürfe nicht den Blick dafür vernebeln, dass auch andere europäische Völker erheblich gelitten hätten. Gerade in diesem Zusammenhang werde die Dimension des polnischen Martyriums sichtbar.
Die europäische Ausrichtung des Museums ist nationalkonservativen Historikern, Politikern und Publizisten wie Wojciech Roszkowski, Dariusz Gawin, Cezary Gmyz und Piotr Semka ein Dorn im Auge. Wie ihre politischen Vordenker Jarosław und Lech Kaczynski fürchten sie, eine solche Herangehensweise werde die polnischen Leiden des Zweiten Weltkriegs und auch das polnische Heldentum im Kampf gegen den Hitler-Faschismus relativieren. Deutlich wird die alte Schwäche der polnischen Nationalkonservativen, die immer und überall befürchten, ihr Land werde von den Großen in Europa, besonders den Deutschen und Russen, übervorteilt – nicht nur in der Geschichtspolitik, sondern auch in den derzeitigen europäischen Debatten über Probleme der Energie-, Klima-, Wirtschafts- und Währungspolitik.
Die Regierung von Premier Tusk und seine liberal-konservative Bürgerplattform dagegen sind souverän genug, europäisches Erinnern zuzulassen, ohne nationales Geschichtsbewusstsein zu relativieren. Tusk und die polnischen Historiker, die das Danziger Museumsprojekt unterstützen, wissen sehr genau, dass die Erinnerungskulturen überall in Europa noch weitgehend national geprägt sind und dass es gerade deshalb darauf ankommt, diese zueinander in Beziehung zu setzen – vergleichbar der politisch-wirtschaftlichen Vereinigung des Kontinents.
Ein zweiter Schwerpunkt polnisch-deutscher Geschichtspolitik in diesem Jahr wird der Systemwechsel in Ostmitteleuropa sein. In Warschau und Berlin weiß man genau, dass es einen engen Zusammenhang zwischen der friedlichen Revolution des Jahres 1989 in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn einerseits und dem Fall der Mauer bzw. der deutschen Einigung andererseits gibt – ohne die bahnbrechenden Auswirkungen des Zerfalls der Sowjetunion leugnen zu wollen.
So werden sich Mitte Mai junge Historiker und Journalisten aus beiden Ländern im niederschlesischen Kreisau (polnisch Krzyzowa) treffen, um über den «Umbruch 1989 in Deutschland und Polen» zu diskutieren. Kreisau wurde bewusst als Veranstaltungsort gewählt, weil das dortige Treffen der damaligen Regierungschefs Tadeusz Mazowiecki und Helmut Kohl am 8. November 1989 ein neues Kapitel in den deutsch-polnischen Beziehungen einleitete. Möglicherweise kommt es am 20. Jahrestag erneut zu einer Begegnung der beiden Politiker in Kreisau.
Am 4. Juni dieses Jahres werden Kanzlerin Angela Merkel sowie die Regierungschefs der Visegrad-Staaten, Rumäniens und der baltischen Staaten in Warschau an einer Veranstaltung zur Erinnerung an die erste postkommunistische Parlamentswahl in Polen zwanzig Jahre zuvor teilnehmen. Die Abhaltung dieser Wahl gehörte zu den Beschlüssen des „Runden Tisches“ im Frühjahr 1989 in Warschau, der zum Symbol für den friedlichen Machtwechsel auch in anderen ostmitteleuropäischen Staaten sowie in der DDR wurde. Am 5. Juni werden Lech Wałęsa, Aleksander Kwasńiewski, Michail Gorbatschow und Helmut Schmidt an einer Podiumsdiskussion an der Warschauer Universität zum Thema „1989 – das polnische Jahr in Europa“ teilnehmen.
Berliner Desinteresse
In Berlin wiederum soll am gleichen Tag eine Gedenkplakette am Reichstagsgebäude zu Ehren der polnischen Gewerkschaft Solidarnosc angebracht werden, die mit dem berühmten Streik auf der Danziger Lenin-Werft im August 1980 das erste Zeichen für den Systemwechsel in Ostmitteleuropa gesetzt hatte. Die Bemühungen der Berliner Polenfreunde, dem langjährigen Solidarność-Vorsitzenden sowie späteren Friedensnobelpreisträger und polnischen Staatspräsidenten Lech Wałęsa die Ehrenbürgerschaft der Stadt zu verleihen, scheitern vorerst am Desinteresse des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit. Dieser meinte am Rande einer Vorstandssitzung der SPD, er wisse überhaupt nicht, was Wałęsa mit Berlin zu tun habe.
Ohnehin ist nicht zu erwarten, dass in diesem Jahr nur polnisch-deutscher Gleichklang in Sachen Geschichtspolitik herrschen wird. Dafür dürfte schon das «Sichtbare Zeichen» sorgen, das der Bundestag auf Vorschlag des Kabinetts mit den Stimmen von CDU, SPD und FDP beschlossen hat. Unter diesem Namen wird eine Stiftung in Trägerschaft des Deutschen Historischen Museums gegründet, die mit einem Dokumentationszentrum und einer Dauerausstellung an die mehr als zwölf Millionen deutschen Vertriebenen und auch an die Vertreibungsschicksale anderer Völker wie der Polen und der Menschen im ehemaligen Jugoslawien erinnern soll.
Typisch deutsches Geschichtsbild
Anders als die Kaczynskis haben sich die Tusk-Regierung und die mit ihr kooperierenden Historiker inzwischen mit diesem deutschen Projekt abgefunden, was aber nicht bedeutet, dass sie es nicht auch weiterhin inhaltlich bemängeln. So kritisieren sie zu Recht, dass die mit dem «Sichtbaren Zeichen» verbundene Charakterisierung des 20. Jahrhunderts als „Epoche der Vertreibungen“ eine typisch deutsche Auffassung sei, die nicht dem Geschichtsbild der Polen und anderer Völker entspreche. Deren kollektives Bewusstsein werde auch durch zentrale Erfahrungen wie Krieg, Fremdherrschaft, Vernichtung der Intelligenz und wirtschaftliche Ausbeutung durch das Nazi-Deutschland bestimmt.
Als schweres Manko empfindet man außerdem die Tatsache, dass mit dem „Sichtbaren Zeichen“ nicht intendiert ist, die Nachkriegsentwicklung der ehemaligen deutschen Ostgebiete in Polen, insbesondere solcher Städte wie Breslau, Stettin, Danzig und Altenstein, mit einzubeziehen, also die Wirkungsgeschichte der von dort vertriebenen Deutschen und den polnischen Umgang mit diesem schwierigen Erbe darzustellen. Die mehrheitlich positive Aneignung der deutschen Geschichte insbesondere Breslaus durch die heutigen polnischen Bewohner der Stadt sei doch ein wichtiges Zeichen der Versöhnung, heißt es.
Manche polnische Reaktionen wird es außerdem geben, sollte das Bundeskabinett dem Druck der deutschen Vertriebenenverbände nachgeben und deren Präsidentin Erika Steinbach in das Gremium der Stiftung berufen. Staatssekretär Bartoszewski hat schon angekündigt, dass er sich keinesfalls damit abfinden werde.
So verstehen Tusk und seine Regierung das Danziger Projekt für ein Museum der Geschichte des Zweiten Weltkriegs auch als Gegenentwurf zum „Sichtbaren Zeichen“, das ja auf langjährige Bemühungen der deutschen Vertriebenenverbände zurückgeht. Warschauer Intentionen entspricht auch das geplante „Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität“, das bis jetzt von Polen, Deutschland und Ungarn, möglicher-weise bald auch von der Tschechischen Republik und der Slowakei unterstützt wird. Die Bundesregierung hatte lange gezögert, bevor sie auch diesem Projekt ihr Plazet gab.
Das Netzwerk ist gedacht als Verbundsystem, das historische Forschungsarbeiten, Bildungsprojekte, Ausstellungen, Konferenzen und Publikationen in den genannten Ländern verbindet und auf diese Weise zu einer Annäherung der nationalen Gedächtniskulturen beiträgt. Die Beteiligten hoffen, auf diese Weise die Folgen der jahrzehntelangen Bewusstseinsspaltung Europas überwinden zu können, indem Erfahrungen von Krieg, Diktatur und Zwangsmigration mit dem Blick auf das Schicksal der anderen thematisiert und aufgearbeitet werden. Mitte März 2009 sollen in Warschau die Kooperationsverträge unterzeichnet werden und die Gremien des Netzwerks erstmals tagen. Erstes Projekt wird eine Konferenz über den Umbruch von 1989 im Mai an der Berliner Humboldt-Universität sein.
(Der Artikel erschien am 12. Januar 2009 in der Neuen Zürcher Zeitung)