Mit Władysław Bartoszewski habe ich viele Begegnungen und Austausche gehabt. Ich erinnere mich, dass ich ihn irgendwann überraschend auf einer U-Bahnstation in München getroffen habe. Er machte den Eindruck eines sehr bescheidenen, sehr weisen Menschen. Als ich ihn ansprach, hielt er mir gleich eine kleine Vorlesung. Was würde er heute als Erstes sagen? Ich glaube, im Angesicht der gegenwärtigen Situation zwischen der deutschen und der polnischen Regierung würde er – obwohl er viele Regierungsämter hatte – sagen: „Hört nicht nur auf die Regierung, hört vor allem auf die Menschen! Guckt auf die Menschen, erkennt die Menschen, lebt mit den Menschen!“ Das hat er ja auch in beiden Ländern getan. Meiner Meinung nach ist das eine Lektion, die wir heute unbedingt ernst nehmen müssen. Für mich jedenfalls ist die schwierige Situation auf der Regierungsebene kein schlechtes Zeichen für die deutsch-polnischen Beziehungen, weil die Menschen, die Gesellschaften in ihrer großen Mehrheit doch nicht einfach den Regierungen folgen. Das ist wichtig. Das war schon früher so und ist auch jetzt so. Also auf Menschen hören ist der erste entscheidende Punkt.
Der zweite Punkt, der mir immer aufgefallen ist: Władysław Bartoszewski war für mich immer ein Innbegriff eines großartigen Patrioten. Ich meine damit, dass seine Loyalität, seine Treue, seine Anhänglichkeit, sein Einstehen für Polen völlig ohne Zweifel waren. Aber es war immer ein Einstehen, das auch eine gewisse Selbstdistanz und Selbstreflexion enthielt, das auch ironisch sein konnte über eigene Positionen. Das war ein wichtiger Teil der Verständigung, weil man auf diese Weise Brücken baut. Man ist nicht nur von sich selbst überzeugt, sondern man kennt auch die andere Seite und man kann auch die eigene Seite durchaus mal kritisch sehen. Das ist ein Zeichen seines großartigen, guten Selbstbewusstseins und Patriotismus gewesen. Sein Leben war er in Verantwortung für Polen, das kann man und will man gar nicht anders sagen – aber er hat eben zugleich ganz besonders intensiv die Brücken gebaut, indem er beide Seiten hin und wieder ironisch ansah.
Wenn wir heute mit ihm sprechen könnten und wenn er etwas für die Zukunft sagen wollte, dann würde er von seiner Erfahrung ausgehend deutlich machen, dass man sich nur verständigen und Brücken bauen kann, wenn man es schafft, sich an die Stelle des Anderen zu versetzen, die Geschichte und die Kultur der anderen Menschen zu kennen. Er war ja nicht von ungefähr Historiker. Geschichte kann verbinden, sie kann zukünftige Wege öffnen oder sie verschließen. Geschichte kann zur Verständigung beitragen, weil man begreift, wie etwas – oder wie bestimmte Personen – geworden sind. Das ist entscheidend.
Wir diskutieren hier auch mit Prof. Robert Traba, meinem langjährigen Freund. Seine Veröffentlichungen, seine großen Bände zur deutsch-polnischen Erinnerung sind wunderbar, weil sie eben die perspektivische Seite von Erinnerung zeigen und damit die Verständigung erleichtern. Wenn man immer von einer homogenen nationalen Erinnerung oder einem nationalem Geschichtsverständnis ausgeht, schafft man keine Verständigung. Dies ist – finde ich – ein großartiges Vermächtnis von Władysław Bartoszewski.
Was kann man heute noch konkret politisch aus seinem persönlichen Zeugnis und seinem Vorbild folgern? Die Verständigung zwischen den Menschen, den Gesellschaften in Europa – Bartoszewski war ja ein großer Europäer - bringt man dadurch zustande, dass man nicht nur auf die nationalen Regierungen hört, sondern dass man sich insbesondere auf den Zwischenebenen, auch auf der Ebene der Städte und Gemeinden, versteht. Da gibt es so viel Übereinstimmung rundum in Europa zwischen Herausforderungen, Notwendigkeiten und Zielen. Sie werden nicht verstellt von Machtpolitik oder irgendwelchen nationalen Prestigeideen. Dort können sich die Menschen begegnen. Diese Brücken zu bauen – so empfinde ich es für mich – ist auch ein Auftrag von Władysław Bartoszewski.
Ich freue mich, dass ich sehr viele Übereinstimmungen mit dem hier ebenfalls publizierten Beitrag von Prof. Andrzej Friszke finde, obwohl ich Herrn Friszke noch nie persönlich getroffen habe. Aber es ist sehr schön zu sehen, dass unsere Wahrnehmung von Professor Bartoszewski sehr ähnlich ist und das lässt auch ein bisschen darauf schließen, welche eigenen Werte und Referenzen man hat – das merkt man immer besonders. Auch der schon erwähnte Prof. Robert Traba – mit dem ich seit Langem sehr viel zusammen gewesen bin, vor allem in seiner Zeit in Berlin – hat in seinem Aufsatz auf den Punkt gebracht, dass wir die verschiedenen Perspektiven zusammen sehen müssen, die manchmal eben verschieden, manchmal sogar konträr sind. Das Prinzip der Vielperspektivität, eine typisch deutsche Wortschöpfung, also das Prinzip verschiedene Perspektiven zusammen zu bringen, ist eine moderne Art über Gemeinwohl zu sprechen. Das ist ein traditioneller Begriff, u.a. aus der katholischen Soziallehre, sehr aktuell und sehr wichtig. Nur wenn wir das können, die verschiedenen Perspektiven verstehen (man spricht auch manchmal von Mehrsprachigkeit, also von der Fähigkeit nicht nur Polnisch, Englisch oder Französisch zu verstehen, sondern auch zum Beispiel die Sprache von Ingenieuren, von Künstlern oder von Sprachwissenschaftlern), nur wenn wir das lernen, kommen wir in unserer Welt weiter. Und das können wir besonders gut dort lernen, wo wir in unserer Stadt, in unserer Lebenswelt, in unserer Kommune mit anderen zu tun haben.
Ich bin ja Politikwissenschaftlerin, und wie eine Art Missionarin vertrete ich die Meinung, dass es mehr Institutionalisierung für eine gute Bürgerbeteiligung geben soll. Wir leben im Zeitalter der Nachhaltigkeit. Wir müssen uns überlegen, wie soll eigentlich unsere Gemeinde oder unsere Stadt in fünf oder zehn Jahren aussehen. Was müssen wir bedenken für die Nachbarschaft, für Verkehrssysteme, für die Energiepolitik? Wenn wir als Bürgerinnen und Bürger in dieser langfristigen Perspektive zusammenkommen und aus den unterschiedlichen Richtungen – einmal die Gewählten, die in der repräsentativen Demokratie legitimiert sind, Entscheidungen zu treffen, aber auch die organisierte Zivilgesellschaft und Unternehmen, die ganz anderen Logiken für die Erarbeitung längerfristiger Perspektiven mit aufzunehmen (wobei die Gewählten nachher entscheiden sollen) – wenn wir also konstruktiv für die Zukunft zusammenarbeiten, dann hat die gemeinsam erarbeitete Strategie auch eine Chance verwirklicht zu werden.
Ich habe in meinen letzten sechs oder sieben Jahren sogenannte Trialoge moderiert, mindestens fünfzig, wo die unterschiedlichen Perspektiven zusammenkommen. Ich habe sie auch mit Polen oder mit Franzosen geführt. Auf der kommunalen Ebenen haben wir ganz viele Verständigungsmöglichkeiten, weil die Herausforderungen (für ein neues Verkehrssystem, für eine gute Wohnungspolitik, für eine frische Luft, für eine gute Energie), die sind sehr ähnlich. Unsere Aufgaben und die Herausforderungen sind sehr ähnlich. Und dann findet man zusammen. Ich plädiere dafür die schönen Städtepartnerschaften nicht nur zum Anlass zum Festessen zu nehmen – obwohl ich ja sehr dafür bin, ich trinke auch sehr gern Rotwein – sondern vorher auch die professionellen Herausforderungen zu bearbeiten. Das führt zu einer viel größeren Annäherung, weil man in der Sache gemeinsame Interessen hat. Dafür plädiere ich und das wäre ganz und gar im Sinne von Władysław Bartoszewski.
Prof. Gesine Schwan ist Präsidentin der Humboldt-Viadrina Governance Platform