Am 8. Mai 2020 wurde der Tag der Befreiung vor 75 Jahren in Berlin feierlich begangen. Das Land Berlin hatte diesen Tag zu diesem Anlass zu einem staatlichen Feiertag erklärt, als einziges Bundesland.
Wenn auch die Corona-Pandemie größere Gedenkveranstaltungen an diesem Tag verhinderte, wurde der Bevölkerung Berlins noch einmal in Erinnerung gerufen, wem man die Befreiung von der Nazi-Schreckensherrschaft zu verdanken hatte. Die landeseigene Gesellschaft Berliner Kulturprojekte hatte dabei die nicht gerade einfallsreiche Idee, am Brandenburger Tor einen Schriftzug mit einem Dankeschön in vier Sprachen „Thank you, Spacibo, Merci und Danke“ als Hommage an die alliierten Siegermächte bis in die Nacht hinein anzustrahlen. Leider hat man dabei das polnische Wort „dziękuję“ vergessen, wie auch generell der Anteil von polnischen Armeeeinheiten an der Befreiung Berlins häufig unterschlagen wird.
Die 1. Infanterie-Division Tadeusz Kościuszko aus Spandau kommend, bezog ihr Quartier im Schloss Charlottenburg. Von hier aus drangen die polnischen Soldaten gemeinsam mit aus dem Osten hinzu stoßenden Einheiten der Roten Armee in die Bezirke Charlottenburg und Tiergarten ein. Besonders viele Opfer forderten die Kämpfe am 1. Mai um die Charlottenburger Chaussee (heutige Straße des 17. Juni). Nachdem schließlich die Technische Hochschule (heute TU Berlin) und S-Bhf. Tiergarten von polnischer Infanterie gestürmt worden waren, wurde am Morgen des 2. Mai der Befehl zur Einstellung der Kämpfe gegeben, woraufhin polnische Soldaten die polnische Flagge auf der Siegessäule hissten.
An den Kämpfen um die Eroberung Berlins nahmen insgesamt 180.000 polnische Soldaten der 1. und 2. Polnischen Armee (in der Ersten Belorussischen bzw. Ersten Ukrainischen Front) teil. Die 1. Polnische Armee war 1944 in der Sowjetunion gegründet worden. In ihr kämpften fast ausschließlich Polen, die zwischen 1940 und 1941 Opfer der stalinistischen Deportationen geworden waren. Diese waren jedoch nach dem Überfall Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion 1941 „amnestiert“ worden. Die 1. Polnische Armee spielte bei den Straßenschlachten in Bezirk Charlottenburg, nicht zuletzt bei der Eroberung der damaligen Technischen Hochschule, wo sich SS und Wehrmacht verschanzt hatten, eine wichtige Rolle. 12.000 von ihnen kämpften in der Innenstadt. 8.892 polnische Soldaten ließen ihr Leben für die Befreiung Berlins.
Der polnische Journalist Edmund Jan Osmańczyk schildert in seinen Erinnerungen detailliert und z. T. persönlich diesen Einsatz in den letzten Tagen des 2. Weltkrieges in Berlin.
Diese Reportage ist zusammen mit weiteren Zeitzeugenberichten von Anfang Mai 1945 und den Schilderungen von bedeutenden historischen Ereignisse aus früheren Jahrhunderten unter dem Titel „Berlin. Polnische Perspektiven 19.–21. Jahrhundert“ im Berlin Story Verlag (2007) erschienen.
Die Rächer Warschaus auf den Ruinen von Berlin: Polnische Soldaten im Kampf um die Reichshauptstadt
Erinnerungen von Edmund Jan Osmańczyk
Gekürzte Fassung; Übersetzung von Ingo Eser
Als wir Berlin-Köpenick erreichten, das wegen der Geschichte mit dem Hauptmann von Köpenick bekannt ist, eine Vorstadt, die erst am Morgen eingenommen worden war, trug uns der Wind den Geruch von Warschau entgegen: den Staub von Trümmern, den Rauch der brennenden Häuser und den Gestank der Leichen. Aber es war nicht September 1939 oder September 1944, sondern April 1945, ein schöner Frühlingstag.
Es war seltsam, aber während der Belagerung von Berlin gab es, genauso wie bei den Belagerungen Warschaus in den beiden Septembermonaten, weder regnerische und feuchte noch bewölkte Tage, sondern nur sonnige, heiße, auch wenn die Sonne vom Rauch verdunkelt wurde. Der Asphalt erbebte von den Explosionen in nächster Nähe, der Boden gab nach unter dem konzentrierten Feuer der Artillerie und unter den Einschlägen der Bomben, die von sowjetischen Flugzeugen abgeworfen wurden. [ … ]
Die ersten mächtigen Bunker, die schon völlig unbewaffnet waren, sahen wir in Köpenick. Dort hielten uns zwei Warschauerinnen an, die einen kleinen Jungen mit hübschen blauen Augen bei sich hatten. Als seine Mutter den Freudenschrei „Polnische Uniformen!“ ausstieß, salutierte er uns und stellte sich vor: „Tadzik Latel aus Warschau, Staszic-Kolonie“. Wir küssten das Aufstandskind, das uns zu einem nahe gelegenen Haus führen wollte, aber uns warnte: „Dort darf man nicht laut Polnisch reden, weil dort Deutsche wohnen.“ Der eingeschüchterte Knabe begriff noch nicht den Wandel, der sich während des letzten Tages vollzogen hatte, aber als er es schließlich doch verstand, fing er an herumzulaufen, zu schreien und herum zu hopsen, bis ihn seine Mutter zu beruhigen begann.
Die Gastfreundschaft unserer Warschauerinnen war rührend. Einladende Gesten gingen einher mit abgerissenen Erzählungen, Tränen mischten sich mit einem Lächeln, der Albtraum der nach dem Aufstand heimatlos gewordenen Frau brach hervor, um schließlich der Freude über den Sieg zu weichen. Nur Tadzik freute sich schon im vollen Maße seiner kindlichen Freiheit. Er hatte Recht, denn schließlich hatte die Artillerie für Menschen wie ihn Berlin beackert.
Die Freude, Polen zu treffen, sollte uns von da an auf allen Straßen des großen Trümmerhaufens Berlin begleiten. Das violette „P“ auf gelber Raute, das preußische Zeichen der „Schande“, wurde plötzlich zum stolzen Passierschein in die Freiheit.
Die Deutschen hingegen verloren blitzartig alle Parteiabzeichen und Orden. Weiße, um den Arm gebundene Tücher und ein niederträchtiges, dienstbeflissenes Lächeln – das war alles, womit sich uns das „Herrenvolk“ in seiner Hauptstadt präsentierte.
Wir requirierten zwei Fahrräder, die ohne Befehl gleich von fünf Deutschen saubergemacht und aufgepumpt wurden, die herangelaufen kamen, um auf Hitler zu schimpfen und sich uns Polen anzubiedern. [ … ]
Von Köpenick aus fahren wir mit den Rädern an die Spree. Auf einer Fähre setzten wir zusammen mit zwei Panzern über. Durch Oberschöneweide fahren wir nach Treptow und weiter nach Neukölln. Wir wollen uns bis zur 1. Armee des polnischen Heeres durchschlagen, die von Westen her attackierte. Gruppen deutscher Soldaten, zurückgelassene Panzerfäuste, Granattrichter in der Erde. Vor zwei Stunden hat hier noch der Kampf getobt. Wir gelangten zur vordersten Frontlinie. Der Kommandant des Abschnitts zeigt uns die deutschen Stellungen, in denen jetzt die Katjuschas einschlagen. Es ist heiß. Man muss schreien, um sich zu verständigen. Das Rattern der Maschinengewehre, der Hagel der Trümmer. Wir kennen diese Melodie aus Warschau. Aber das hier ist Berlin, Berlin, Berlin!
Wir setzen wieder mit der Fähre über die Spree über. Marian [Brandys] murmelt: „Wir überschreiten die Oder, wir überschreiten die Spree …“
Wir richten uns gen Nordwesten. Hier ist der Weg schon frei. Durch Lichtenberg hindurch sollen wir zur 1. Armee.
„Ein grundlegender Durchbruch“
Zwanzig Jahre später hat Oberst Janusz Przymanowski mit seiner ganzen Autorität und auf der Grundlage der uns überlieferten Akten und Dokumente erklärt, dass Osmańczyk und Brandys als Erste die Straßen Berlins betraten. Ich wiederhole dies mit Stolz und denke daran, dass all dies nur möglich war, weil ich und alle meinen Kollegen sehr lang auf diesen Moment gewartet haben, und deswegen verlangte es mich sehr danach, Zeuge dieser Ereignisse zu werden.
In Lichtenberg trafen wir auf den Stab einer Einheit der Roten Armee, die Leningrader Panzergardisten, die uns mehr als nur freundschaftlich begrüßten. Sie bewirteten uns mit einem Abendessen, gaben uns Unterkunft und zeigten uns eine Frontzeitung, in der über die Unterzeichnung eines polnisch-sowjetischen Bündnisabkommens am 21. April 1945 in Moskau berichtet wurde.
Wir haben einiges an Sprit getrunken und erbeutete Sahne darüber gekippt. Die Schnapsgläser waren bis an den Rand gefüllt. [ … ]
Wahnsinn
„Berlin bleibt deutsch!“ kommandierte in seinem Befehl der Meister der Krematorien und Konzentrationslager, Heinrich Himmler, in der Überzeugung, dass Berlin aufhört, deutsch zu sein, wenn es nicht mehr von den Nazis beherrscht wurde. Also verteidigte sich Berlin. In den ersten Tagen verbissen, entschlossen, selbstmörderisch. Als Lichtenberg eingenommen wurde, sahen wir in diesem Viertel die Leiche eines Offiziers, der über einem geborstenen Geschütz aufgehängt worden war. Darauf war ein Schild platziert, das die Aufschrift trug: „Ich wurde gehängt, weil ich mein Sturmgeschütz nicht so in Ordnung gehalten habe, wie der Führer es befohlen hat.“
Daneben, bei einem schweren Maschinengewehr, schauten einige Halbwüchsige aus der Hitlerjugend auf den Leichnam, ebenso mit gläsernem Blick. Sie starben in der Überzeugung, der Offizier wäre daran schuld, dass all das passiert war, weil dieser es zugelassen hatte, dass der Lauf des Geschützes explodierte. Der Wahnsinn des Selbstmordes und des Exekutierens eigener Offiziere war überall zu beobachten. An allen Abschnitten der Front in Berlin und entlang der Elbe hatte die Propaganda Goebbels‘ eine Psychose hervorgerufen – Sieg oder Tod. Aber der Sieg war genauso ein Mythos wie die Unsterblichkeit des „Führers“. Und so blieb auch für Tausende von Soldaten und Offiziere nur der Tod.
Ich habe mit vielen Soldaten geredet, die polnische oder sowjetische Einheiten gefangen genommen hatten. Immer wieder bekam ich zu hören: „Wenn wir gewusst hätten, dass ihr Gefangene macht, hätte niemand von uns Selbstmord begangen.“
Die Erinnerungen der Soldaten und Offiziere an ihren Aufenthalt in Russland und Polen steigerten die Todespsychose. Die vergangenen Jahre, die in einem Satz zum Ausdruck kamen, der seit Ende 1943 täglich in den deutschen Frontmeldungen wiederholt worden war – „Wir haben uns zurückgezogen, nachdem wir alles restlos vernichtet haben“ –, wirkten auf das schlechte Gewissen der Menschen beunruhigend wie ein Albtraum. [ … ]
Am fantastischsten waren die Nächte …
In den Tagen der Belagerung waren die Nächte am fantastischsten. Am dritten Tag der Schlacht um Berlin fanden wir uns plötzlich bei einem Lager für Zwangsarbeiterinnen wieder. Am Tor prangte die Aufschrift „Polenlager Schönholz“. Hundert Meter von uns entfernt ratterten die Maschinengewehre, zweihundert Meter hinter uns standen die Katjuscha-Raketen. Die hölzernen Baracken des Frauenkonzentrationslagers erbebten unter den Druckwellen und Detonationen. Im dunklen, mit Kerzen erleuchteten Unterstand, der in ein Lazarett umgewandelt worden war, lagen Polinnen im Sterben, die nach dem Aufstand aus Warschau verschleppt worden waren. Vom Kommandanten des Lagers waren sie unmenschlich geschlagen worden, und befreit worden waren sie erst an dem Morgen, als wir zu ihnen kamen.
Auf dem Hof waren die Gräber der letzten Opfer. Eine Handvoll Polen, Frauen, Knaben, Mädchen, kleine Kinder, beherbergten uns, die beiden polnischen Armeeangehörigen, mit einer Kost, die untypisch für ein Lager ist. Tische mit Tischdecken, Brot, Konserven und französischem Wein, den sowjetische Soldaten in benachbarten Villen beschlagnahmt hatten.
In dieser nach Hunger und Tod riechenden Baracke, die bei jeder Detonation erzitterte (wir befinden uns zwischen der vordersten Frontlinie und den Stellungen der Artillerie), hat dieses Abendessen mit Landsleuten, die aus ganz Polen hierher nach Berlin verschleppt worden sind, einen ergreifenden Geschmack. Noch einen Tag zuvor lief hier dieser bösartige preußische Kommandant herum mit einer eisernen Peitsche, die da auf dem Tisch liegt und nie mehr einen Polen berühren wird.
lles geschah zu unerwartet, um sofort begreifen zu können, dass das, was war, nicht wieder zurückkehren wird. Wir hielten es nicht mehr aus und gingen raus auf den Platz, um frische Luft und den Geruch des zertrümmerten Berlins zu atmen. In der Nähe stand ein Wasserturm. Wir bestiegen ihn. Es war nach Mitternacht. Der Himmel war bleischwer von Rauchwolken. Der Mond war kaum zu sehen und wirkte im Feuerschein der vor sich hinbrennenden Innenstadt recht blass. Plötzlich erhob sich auf allen Seiten ein mächtiges Brausen. Auf ein Signal hin begannen die Katjuschas, die rund um die Stadt postiert waren, zu feuern. Und danach bot sich uns ein märchenhaftes Schauspiel. So wie die Wasserstrahlen einer Fontäne von außen in die Mitte eines Beckens laufen, so ergossen sich nun von allen Seiten Berlins Leuchtgeschosse in das Zentrum der Stadt. Der Boden vibrierte unter den dumpfen Einschlägen und nur eine Sekunde später öffnete sich die Hölle der Explosionen, Rauchschwaden, ein Meer von Feuer. Wir sahen uns satt an diesem Schauspiel, dem einzigartigsten in der Geschichte, aber noch war nicht das Ende erreicht. Bald brummten oben die Flugzeuge. Durch die Rauchwolken brachen „Christbäume“ (deutsche Bezeichnung für Leuchtmunition, die über bombardierten Städten abgeworfen wurde) hindurch. Die Sicht war besser als am Tag. Die Glut der Trümmer in der Innenstadt verblasste gegenüber der Phosphorhelle der „Christbäume“. Es vergingen Sekunden. Einige Dutzend Geschwader kamen nach Berlin herangeflogen, näherten sich dem Zentrum und warfen gleichzeitig einige Hundert Bomben ab. Diese schlugen dumpf in den Boden ein, um dann, nachdem sich die Flugzeuge wieder entfernt hatten, dank eines Verzögerungsmechanismus eine Fontäne von Trümmern emporzustoßen.
Einen Moment später heulten wieder die Katjuschas, danach war wieder das Brummen der Flugzeugmotoren zu hören, und so ging die ganze Nacht diese Serie über Berlin weiter. Wir standen stundenlang oben auf dem Wasserturm, verzaubert von der Gewalt des todbringenden Fortschritts des 20. Jahrhunderts. [ … ]
Auf dem Alexanderplatz
Da ich Berlin genauso gut kannte wie Warschau, achtete ich nicht allzu sehr auf die Stabsinformationen, die uns die Kommandanten einzelner Frontabschnitte gaben, als ich mit Marian Brandys das weitere Vorgehen bei unseren Recherchen für den nächsten Tag festlegte. Ich hatte ganz bestimmte Vorstellungen und wollte sie um jeden Preis erreichen. Ich wollte die Eroberung des Alexanderplatzes erleben, wo die Berliner Gestapo ihren Sitz hatte. Weiter wollte ich die Reichskanzlei sehen sowie die Via Triumphalis von der Straße Unter den Linden bis zum Kaiserdamm, außerdem Potsdam. Und am Ende wollte ich mich davon überzeugen, in welchem Zustand sich die Einrichtungen der Berliner Polonia befanden: das Polnische Haus an der Jannowitzbrücke, die Zentrale des Bundes der Polen in Deutschland und die Bank Słowiański an der Potsdamer Straße, die Botschaft und das Generalkonsulat der Republik Polen an der Kurfürstenstraße und schließlich die Burse des Bundes der Akademiker in Deutschland in der Lutherstraße 17, wo ich bis Januar 1939 gewohnt hatte. All diese Ziele versuchte ich nicht so zu erreichen, wie es mir sowjetische und polnische Stabsangehörige empfohlen hatten, sondern über Abkürzungen. Wir fuhren mit den beschlagnahmten Fahrrädern, die sich für Kriegskorrespondenten überall dort als hervorragendes Fortbewegungsmittel erwiesen, wo die Straßen ab und zu durch Trümmer oder Bombentrichter versperrt waren.
Es war schon der zweite Tag, als ich Marian auf eine eiserne Brücke führte, die nach Neukölln ging. Dies war der kürzeste Weg zum Ziel, das für diesen Tag vorgesehen war, den ich kannte. Wir fuhren geradeaus, aber zum Glück nicht in der Mitte der Brücke, sondern auf einem Seitenstreifen, der hinter einem hohen eisernen Gitter lag. Da bemerkte Marian:
„Ich glaube, die schießen auf uns!“
„Ach was, wo denn …“ sagte ich abwiegelnd, bis ich direkt am anderen Ende, im Torweg eines großen Hauses, große sowjetische Maschinengewehre sah, die schräg die Straße unter Beschuss nahmen, über die wir so wagemutig fahren wollten. Die Russen signalisierten uns, dass wir schnell bei ihnen in Deckung gehen sollten. Schleunigst fuhren wir heran, als auch schon von Westen her die nächste Salve abgefeuert wurde und über die Wand hinwegfegte, an der wir gerade entlangeilten.
Es stellte sich heraus, dass wir auf einen Brückenkopf gestoßen waren, der erst vor wenigen Stunden eingenommen worden war, aber noch ständig von der gegenüberliegenden Seite der Straße beschossen wurde. Den Rotarmisten gefiel unser unfreiwilliges Husarenstück, aber als es mit Unterstützung der Artillerie zur siegreichen Attacke ging, ließen sie es wie in Weißensee nicht zu, dass wir unser Leben riskierten. „Eure Pflicht ist es, zu sehen und darüber zu schreiben. Unsere ist es, euer Leben zu schützen.“
Dies wiederholte sich auch im Schlosspark, aber ebenso am Alexanderplatz, zu dem wir uns über Schleichwege durchschlagen konnten und wo wir Zeugen der letzten Stunden des Kampfes waren. Die Gardesoldaten befahlen uns sofort, am Sockel des hässlichsten Denkmals der Welt stehen zu bleiben, der zerschossenen Berolina. Von unserer Position hinter dem Sockel aus konnten wir sehen, dass aus einem schweren Bunker, der sich am Ausgang einer der Straßen befand, so heftig auf den Platz gefeuert wurde, dass ohne Liquidierung dieses MG-Nests der Alexanderplatz nicht eingenommen werden konnte. Und dann sahen wir, wie sich aus dem erschöpften Haufen von Gardesoldaten eine Abteilung von Freiwilligen und Wagemutigen aufmachte, einen wahnsinnigen Angriff zu wagen. Sieben von ihnen fielen, aber der Rest kam durch und brachte den Feuer speienden Bunker für immer zum Schweigen. Ein Freund der Gefallenen trat an ihn heran und schrieb mit schwarzer Kohle folgende Worte: „Hier haben sieben Gardesoldaten den Tod gefunden.“
Ich sah nun genau das zertrümmerte und in großen Teilen ausgebrannte Gebäude der Berliner Gestapo, dessen Inneres ich im Januar 1939 kennengelernt hatte, und das bis 1945 Quell des Unglücks so vieler Menschen verschiedenster Nationalität war, auch von Deutschen. Es roch nach dem Rauch der Brände und dem Blut der tot auf dem Platz liegenden Deutschen, die in Uniformen der Wehrmacht, der Waffen-SS und des Volkssturmes steckten. Wir machten Notizen und Lageskizzen auf blauem Briefpapier, von dem ich nicht weiß, wo wir es gefunden hatten, als unsere Betreuer merkten, dass wir unter all den Lebenden und Toten die einzigen ohne Waffe waren.
„A gdje u was oruschije?“ (Und wo habt ihr eure Waffen?), fragten sie uns. Wir erklärten ihnen, dass unsere Waffe die „Karandaschi“ sind – unsere Bleistifte! Außerdem haben uns unsere Vorgesetzten empfohlen, uns an der Front eine Waffe zu besorgen. Die Gardesoldaten brüllten los vor Lachen. Einer von ihnen trat an die gefallenen SS-Männer heran, nahm ihnen ihre Halfter mit schweren Revolvern ab und übergab sie uns feierlich.
Solcherart bewaffnet fuhren wir mit unseren Fahrrädern nach Norden, in Richtung Prenzlauer Berg und Wedding, da wir dort wieder auf polnische Soldaten treffen sollten. Auf dem Weg dorthin erfuhren wir von sowjetischen Offizieren, dass es einen Tag zuvor in Torgau an der Elbe – 90 km südlich von Berlin! – zur ersten Begegnung der Roten Armee mit der US-Army gekommen war.
„Willst du leben – bekämpfe den Deutschen“
Groß-Berlin hat einen Durchmesser von 25 km. Die Frontlinie verläuft an ihrem nordöstlichen Abschnitt nicht gerade. Um nach Westen zu gelangen, muss man entweder einen Bogen um Berlin herumschlagen – einen großen, einige Dutzend Kilometer langen Bogen – oder die gleiche Strecke entlang den Windungen der Front zurücklegen. Wir entschieden uns für die zweite Möglichkeit. Die Freude, die Breschen in der Festung Preußens zu sehen, war den schwierigeren Weg wert.
Am Nordabschnitt trafen wir endlich die ersten polnischen Soldaten. Eigentlich wussten wir, dass sie in Berlin waren. Wir wussten auch, dass sie die Deutschen bekämpften, und das war gut so. Die Offiziere und Soldaten der Roten Armee hatten von ihnen erzählt. Die polnische Uniform, die polnische Vierecksmütze, genießen Ansehen und Wertschätzung unter den Frontsoldaten. Und trotzdem: Als ich die ersten unserer Jungs auf irgend so einer „Residenzstraße“ in Berlin sah, wollte ich sie vor lauter Freude des Herzens, der Seele und des Verstandes drücken, als ob sie meine engsten Verwandten wären. Vielleicht kamen hierin Sentimentalität und patriotische Wehleidigkeit zum Ausdruck, ein billiges Zeichen schneller Gefühlsausbrüche, wie sie für die Polen typisch sind. Vielleicht. Die Geste des Umarmens ist immer eine etwas oberflächliche Weise, seine Gefühle auszudrücken. Aber dieses Mal war die Geschichte für die Art der Geste bestimmend, nicht wir, die am Weltkrieg beteiligten Kriegskorrespondenten, nicht diese beiden polnischen Soldaten vom Bug und San, die sich freuten, dass der Krieg bald zu Ende ist und dass sie vielleicht im Reichstag Josef Goebbels schnappen könnten. Dieses Treffen bedeutete viel, viel mehr, als unsere kleinen Gemüter fassen konnten, und viel, viel mehr, als diese polnischen Worte zum Ausdruck bringen können: Der polnische Soldat erobert Berlin. Der Norden Berlins wurde auf dem Morast, im Sumpf und auf den früheren Kultstätten der Wenden errichtet. Die preußischen Architekten hatten hier viel Mühe, die absinkenden Fundamente in diesem Arbeiterviertel abzustützen. Die Residenzstraße nämlich, würde man sie von den Trümmern befreien und umgraben, würde uns die Spuren eines vor Jahrhunderten untergegangenen slawischen Dorfes offenbaren. Dieselbe Residenzstraße würde uns, würde man sie von den Spuren der letzten Bombardierungen befreien und aus ihren Trümmern wieder auferstehen lassen, mit einer Vielzahl polnischer Namen erstaunen, die wir auf den Laden- und Türschildern finden würden. Berlin, das war ein Leichenfeld des Slawentums. Entweder, man ging hier zugrunde, oder man setzte sich zur Wehr, in dem man Berlin zerschmetterte. Zweifelsohne gibt es so etwas wie Gerechtigkeit in der Geschichte, ging doch Berlin gerade durch das Zuschlagen slawischer Armeen zugrunde. Von der Residenzstraße aus fuhren wir weiter nach Nordosten. Nachdem wir erneut fehlgegangen waren – das Sausen der Projektile scheuchte uns dieses Mal auf einen sichereren Weg – trafen wir schließlich auf eine Autokolonne, die mit weiß-roten Bannern vorne an die Front fuhr. „Woher?“ „Von unserem Quartier!“ Und so wissen wir wohin. Wir müssen uns beim Stab melden. Wir laden unsere Räder auf einen erbeuteten Polizeiwagen – einen grünen Lieferwagen mit einem Schild, auf dem „PoIizei“ steht, brrr – da wird einem noch kalt – und fahren … zu weit! Wir radeln zurück. An den Straßen sind schon überall russische und polnische Aufschriften angebracht. Polnische Soldaten regeln den Verkehr an den Straßenkreuzungen. Massen von Polinnen und Polen, die aus dem Konzentrationslager zurückkehren, schieben sich über die Straßen, sammeln sich in den Seitenstraßen und -wegen, halten die Soldaten an, drücken sie, küssen sie, weinen. Dies alles geschieht – das muss man sich mit allem Nachdruck klarmachen – im Nordwesten Berlins, der Hauptstadt Preußens und Deutschlands, die seit zwei Tagen von sowjetischen und polnischen Truppen eingekesselt ist.
Die Städtchen, die zwischen den Wäldern liegen, sind von den Kriegszerstörungen kaum berührt, in Weiß und Rosa getaucht. Es ist Frühling, und die Äpfel und Kirschen blühen. Und jedes der kleinen Häuser hat einen Garten, in dem Obstbäume stehen.
In diesem Albtraum von Krieg, den wir von der Oder bis nach Berlin gesehen hatten, wirkte dieses Idyll polnischer Besatzung vor den Toren Berlins wie ein Hauch unserer Zukunft – es beruhigt und stärkt.
Aber plötzlich ein Misston. Die Vergangenheit bringt sich ins Gedächtnis, dringt schmerzhaft ins Herz ein. Auf Fahrrädern kommt eine Gruppe von Polen angeradelt, die furchtbare gestreifte Kleider anhaben. Das sind Polen aus Konzentrationslagern.
Zwischen all den duftenden Gärten, in der sonnigen Flauschigkeit der erblühten Bäume nahmen sich diese Leute auf den Fahrrädern wie die amerikanische Groteske einer Landpartie von Sing-Sing-Häftlingen aus, wäre da nicht die Brutalität einer ganz anderen Wahrheit. Denn was für eine düstere Wahrheit ist das, dass es eines so grauenhaften Krieges bedurfte, damit schließlich der Mensch, der durch den Hochmut eines anderen Menschen gequält wurde, wieder den Frühling atmen und den Blick an der Baumblüte erfreuen kann, die bis gestern den Augen der Hochmütigen vorbehalten war.
Das Lächeln vergeht uns. Es bleibt der Schmerz. Das Gespräch mit den Oranienburgern bleibt wie ein unbarmherziger Schrei im Kopf zurück: Vergiss nicht! Vergiss nicht! Vergiss nicht! Der polnische Soldat erinnert sich. Er bekämpft den Deutschen, weil er leben will. Er will leben! Unter den Deutschen ist die Angst vor den polnischen Soldaten groß. Dies gibt Sicherheit, dass das Unrecht wiedergutgemacht wird, sofern man Unrecht überhaupt wieder gutmachen kann.
Es ist schon Nacht, als wir zum Stab fahren. Es schüttet über Berlin. Der rote Mond. Ein Wald. Eine Kleinstadt. Ein Wald. Wieder eine Kleinstadt. Wieder Wald. Vor ein paar Tagen waren hier die Deutschen. Niemand hat sich versteckt. Niemand schießt auf das langsam fahrende Auto mit den abgeblendeten Lichtern.
Sie sitzen zu Hause, heften sich weiße Armbinden an und denken darüber nach, wie sie sich aus all den Verbrechen herausreden können.
Vorsicht mit dem Erbarmen gegenüber den Deutschen!
In einem Villenvorort Berlins hält uns eine Gruppe von Polen, ungarischen Juden und Franzosen an. Sie kehren aus dem Konzentrationslager zurück. Sie sind in Lumpen gekleidet, so gut wie barfuß, ausgemergelt, hungrig. Sie haben in irgendwelchen Baracken übernachtet, in Garagen neben den Luxusvillen. Die Scheu dieser Leute, die Langsamkeit und Mühe, mit der sie Worte formulieren, die Starrheit ihrer Augen, die nicht von dieser Welt zu sein scheinen – dies alles ist erschreckend wie ein Meer schmerzvoller Erinnerungen, die bei diesen Menschen durch Erlebnisse geweckt werden, die uns unfassbar scheinen. In einigen Augen sehen wir einen Schimmer von Heiligkeit, in anderen ein verstörtes Aufflackern furchtbarer Angst, das der Frühling und die Freiheit noch nicht hatten beseitigen können. In uns breiten sich unbewusst Empörung und Wut aus. Nicht gegen sie, diese bis zum Grunde ihrer Seele gequälten Menschen, richtet sich diese Wut, sondern gegen all diese Luxusvillen, die mit ihrem preußisch „Verboten!“ um sich herum einen Bannkreis errichten, den diese Leute noch immer nicht zu betreten wagen. Vom Krieg unberührter, toter Reichtum der niederträchtigsten aller Nationen, der preußischen Nation, erwachsen aus dem Leid der Menschen, die eine andere Sprache sprechen, die anderer Gesinnung sind. Irgendwo auf der Welt wurde Krieg geführt, die preußischen Soldaten haben gebrandschatzt, zerstört und das Hab und Gut anderer Völker geraubt, um ihre Beute in lauschigen Villen zu sammeln, die zwischen Wäldern und Gärten liegen, in der Nähe von Konzentrationslagern, wo wiederum eine andere preußische Soldateska Menschen aus der ganzen Welt in die Krematorien trieb, in die Folterkammern, zu den Hinrichtungsstätten, zu raffinierten Rückgrat-Brechern.
Wir gehen in einige dieser preußischen Villen hinein. Sie sind nicht leer. Irgendwelche Frauen, irgendwelche älteren Männer lugen ängstlich hervor. Wir geben den Befehl: „Sofort alle Koffer aus dem Keller bringen!“ Auf dem Hof legen die Deutschen ihre Koffer, Taschen und Kisten in eine Reihe und öffnen sie. In ihnen türmen sich Kleidungsstücke, Wäsche, Schuhe. „Das ist alles euch!“, sagen wir den Leuten, die bis gestern noch nicht einmal ein eigenes Leben besessen hatten.
Langsam, nach gründlicher Überlegung nehmen sie sich ein paar Sachen. Sie legen die Lumpen ab, schlüpfen in ein sauberes Hemd, ziehen Kleidungsstücke, Schuhe an. Sie nehmen nicht mehr, als sie benötigen. Eine schöne ungarische Jüdin zieht Strümpfe über ihre geschwürigen Beine, probiert Pantoffel an, tritt zuvor mit Holzschuhen in ein Beet mit Stiefmütterchen und Tulpen und bricht in Tränen aus. Ein traurig dreinschauender, nervöser Franzose in zu weiter Kleidung wendet seinen Kopf ab und schaut auf den blutroten Sonnenuntergang. In der Hand hält er einen Strauß Tulpen, die er streichelt, wobei er darauf achtet, bloß nicht die Blütenblätter zu berühren.
In einem großzügigen Speisezimmer hat man den Tisch gedeckt. Die eingeschüchterten Deutschen bringen dienstbeflissen das Essen. Ein kurzer Besuch in der Speisekammer, die sich im Keller befand, brachte Brot, Kuchen, Sardinen, Dauerwurst, italienischen, französischen und griechischen Wein sowie polnisches Kompott hervor. Nichts auf dem Tisch war deutsch. Alles wurde im germanischen „Paneuropa“ zusammengeraubt.
Wir schauen zu, wie sich unsere allerärmsten Brüder stärken. Der traurige Franzose bringt einen Toast auf die Freundschaft und Freiheit der Völker aus. Die Tafelgäste, die zu weite Kleider tragen, stoßen ungeschickt mit den Gläsern an. Rote Tropfen beflecken die sehr weiße Tischdecke.
Ein sechzigjähriger „Szwab“ [abwertende polnische Bezeichnung für die Deutschen] kommt, um eine Zigarette zu schnorren, und bittet, dass wir ihm eine Flasche Wein übriglassen, weil er herzkrank sei. Seinem feisten Gesicht sieht man die Fettpolster an. Ich schreie ihn an, er solle verschwinden, als einer der Polen dem Deutschen eine Zigarette und eine angebrochene Flasche Wein gibt. „Es gab mal einen Deutschen,“ sagt er zur Erklärung, „der hat mir eine Zigarette und ein Glas Wein gegeben, als ich krank war. Jetzt zahle ich diese Schuld zurück. Jetzt bin ich auch von jeder Pflicht zur Dankbarkeit befreit.“ Der Deutsche zieht sich mit dem Rücken zur Tür zurück und macht dabei pausenlos tiefe Verbeugungen. Er verbeugt sich auch vor mir, nicht weil ich der Geber bin, sondern weil ich ihn angeschrien habe und einen Revolver besitze. Ich schäme mich, schäme mich für den Deutschen und für das gute Herz, das der ehemalige Häftling besitzt. Die scheinbar so klaren Begriffe Schuld und Sühne scheinen mir plötzlich wieder unklar. Wenn der Lauf der Geschichte nicht automatisch dazu führt, begangenes Unrecht wiedergutzumachen, wie soll dies sonst bewerkstelligt werden, wie?
Die guten Leute bleiben die Nacht über in der Villa. Wir fahren weiter, wobei wir uns nicht sicher sind, ob nicht der fette Deutsche die Schlafenden umbringen wird, so wie dies zwei Tage zuvor bei einer ähnlichen Gelegenheit in irgendeiner Villa in Bernau geschehen ist. Vielleicht sollte man an allen Straßen des Reiches Tafeln mit der Aufschrift aufstellen: „Vorsicht mit dem Erbarmen gegenüber den Deutschen!“
Unterwegs verliere ich die Orientierung. Links wie rechts von der Straße glaube ich, die Abenddämmerung zu sehen. Ein blutrotes Leuchten, während über uns Regenwolken bleischwer hängen. Der mächtige Donnerhall der Kanonen erinnert mich an die Wahrheit: Links von der Straße leuchten die letzten Sonnenstrahlen, rechts geht Berlin seinem Ende entgegen. Dort gibt es kein Erbarmen.
Spandau
Von Potsdam aus fuhren wir mit einem amerikanisch-sowjetisch-polnischen Willys-Jeep in das nahe gelegene Spandau.
Auf dem holprigen Weg wurden wir ziemlich hin- und hergeworfen, aber mich hat das ehrlich gefreut, musste ich doch die ganze Zeit daran denken, an welchem unglaublichen Abenteuer mir vergönnt war teilzunehmen. Schließlich fuhr ich in einem Auto, das in Amerika produziert, nach langen diplomatischen Verhandlungen über den Atlantik und das Weiße Meer nach Murmansk gebracht und von dort über das Verteilersystem der Roten Armee an die Kraftfahrkompanie der 1. Polnischen Armee geliefert worden war – und ich fahre mit eben diesem Symbol der gemeinsamen, antifaschistischen Front der USA, der UdSSR und Polen in „meine Heimatstadt“ Spandau!
Warum „meine Heimatstadt“? Im Städtchen Spandau, das vor der Gründung Groß-Berlins noch zum Regierungsbezirk Potsdam gehörte, ließ nämlich Bismarck eine Zitadelle errichten, in deren Kasematten Rekruten aus Schlesien und Großpolen ausgebildet wurden. An diesem Ort diente 1901 mein Vater bei den Preußen. Er wurde aus einem kleinen, an der Oder zwischen Troppau und Ratibor gelegenen Dorf eingezogen. Und dorthin wurde wiederum auch ich 1938 zum 67. Preußischen Infanterieregiment einberufen, um eine dreimonatige Ausbildung zu durchlaufen, wobei man mir einen großen roten Stempel „Achtung, Pole!“ in den Dienstausweis gedrückt hatte. Der Chef der Kompanie hatte uns spöttisch auf Polnisch begrüßt, ein Volksdeutscher aus Bydgoszcz, der zur Reichswehr übergelaufen war, nachdem er in Polen die Kadettenschule absolviert hatte. Ich durchlief also von Anfang an eine harte Schule und erlebte nur zu gut das Elend der preußischen Rekruten aus Schlesien, die hier seit etwa fünfzig Jahren ihre Ausbildung erfuhren.
Als ich jetzt mit dem Jeep nach Spandau kam, fiel mir zunächst der von Kugeln zerschossene goldene Turm auf, der sich über die Zitadelle erhob. Eigentlich hieß er Juliusturm, aber mein Vater hat erzählt, zu seiner Zeit wurden in den Kellergewölben des Turms Kisten mit fünf Milliarden französischen Goldfranken aufbewahrt, die Frankreich nach der Niederlage von Sedan binnen eines Jahres an Preußen als Kriegsentschädigung hatte zahlen müssen. Dieser ungeheure Goldberg wurde zur Grundlage der ökonomischen Macht des Bismarck-Reiches. Mir schien, als ob auf dem goldenen Turm, der durch den von der Stadt aufziehenden Rauch verhüllt wurde, neben der roten Flagge die weiß-rote wehte.
„Ist das möglich?“, fragte ich den Fahrer.
„Ja, das ist möglich. Die Truppen der 1. Armee, die Berlin von Norden her eingeschlossen haben, haben nämlich gestern, gerade von Spandau aus ihren Angriff auf Charlottenburg begonnen …“
Die Kapitulation Berlins und des Dritten Reiches
In der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai übernachteten wir in der Nähe von Spandau. Einen Kilometer weiter lagen die von der polnischen Artillerie zerschossenen Kasernen des 67. preußischen Infanterieregiments, was ich mit besonderer Freude zur Kenntnis nahm. Die polnischen Einheiten kämpften vom Berliner Westen her gegen die Deutschen und hatten nach und nach die Aufgabe erhalten, Spandau, Charlottenburg und Tiergarten einzunehmen. Die Ehre, Berlin zu stürmen, fiel zum Teil der 1. Tadeusz-Kościuszko-Infanteriedivision zu. Am 1. Mai zertrümmerten die Katjuschas und Bomber Berlin auf feiertägliche Weise. Polnische Truppen erstürmten den Kaiserdamm, die Berliner Straße und die Charlottenburger Chaussee. Als Ort des Zusammentreffens mit den sowjetischen Verbündeten war das Brandenburger Tor vorgesehen.
Vom Osten her hatten die Gardesoldaten aus Leningrad, nachdem sie die Frankfurter Allee gesäubert und den Alexanderplatz eingenommen hatten, den Feind über die Straße Unter den Linden zurückgedrängt und bereiteten sich auf den letzten Schlag gegen den Amtssitz Hitlers vor, die Reichskanzlei, sowie auf die Erstürmung des Reichstages vor.
Die ersten Breschen in das mit Bunkern verbarrikadierte Westend hatten die polnischen Soldaten schon am Tag zuvor geschlagen. In der Nacht wurde schließlich der Kaiserdamm eingenommen, und am Tag die Berliner Straße sowie die berühmte Bismarckstraße. Das ausgerechnet die Straße, die nach Bismarck benannt worden war, von Polen entwaffnet wurde, war ein besonders guter Treppenwitz der Geschichte. Danach brachen Soldaten des 2. Infanterieregiments, das von Oberst Wiktor Sienicki angeführt und von sowjetischen Panzergardisten unterstützt wurde, endgültig den Widerstand der Technischen Hochschule in Charlottenburg.
Der Angriff wurde mit großer Heftigkeit geführt. Die Deutschen versuchten, sich aus den Ruinen der Hochschule zurückzuziehen. Vergebens. Also gingen sie in die Gefangenschaft. Am Bahnhof Tiergarten erstickten die Soldaten des 3. Infanterieregiments, das von Aleksander Archipowicz befehligt wurde, ebenso in enger Zusammenarbeit mit dem Panzerkorps der Garde, den letzten Widerstand schwerer Maschinengewehre und richteten auf den Gleisen des Bahnhofes die weiß-rote Flagge auf.
Am Morgen des 2. Mai 1945 bot sich den Soldaten der 1. Armee des Polnischen Heeres ein unvergleichlicher Anblick auf das sterbende Zentrum der Hauptstadt Preußens und des III. Reiches.
Zuvorderst lag der Tiergarten. Ein riesiger Park, dessen Bäume von den Geschossen so niedergemäht und versengt worden waren, dass sie wie Friedhofskreuze aussahen. Mitten im Park glänzte die vergoldete, hochmütige Siegessäule – gegossen auf Befehl eines der Hauptarchitekten des Deutschen Reiches, des „eisernen Kanzlers“ Otto Bismarck, aus vierhundert französischen Geschützen, die in der Schlacht von Sedan am 1. September 1870 erbeutet worden waren.
Das Kommando der 7. Batterie der 3. Division, die durch den Tiergarten zur Straße Unter den Linden marschieren sollten, entschloss sich, an der Siegessäule die polnische Flagge aufzuhängen.
Aus den Berichten, die uns überliefert sind, geht hervor, dass Leutnant Mikołaj Troicki die Idee dazu hatte, die Entscheidung fällte Leutnant Stanisław Szymanik, und auf die Säule stiegen schließlich, neben den beiden bereits Erwähnten, Korporal Karpowicz, Zugführer Kazimierz Otab sowie die Kanoniere Antoni Jabłoński und Eugeniusz Mierzejewski. Über die Wendeltreppe im Inneren des Denkmals stiegen sie auf die Spitze des Sockels, auf der die Siegesgöttin steht. An ihre rechte Hand brachten sie das weiß-rote Banner an. Vom Brandenburger Tor her kamen die Gardesoldaten angelaufen, die die Straße Unter den Linden eingenommen hatten. Die rote Standarte mit Hammer und Sichel hisste man an der zweiten Hand der Göttin des preußischen Sieges über Frankreich. Auf dem Sockel wurde dieser Akt in polnischer und russischer Sprache schriftlich festgehalten, als Zeichen des slawischen Sieges über den germanischen Imperialismus.
Die polnischen Soldaten wiederum begaben sich zur Straße Unter den Linden, wo sie neben der Flagge der UdSSR die Flagge der Republik Polen auf dem Brandenburger Tor aufzogen. Ringsherum erloschen die Feuer. Die polnischen Soldaten marschierten nun über die Siegesallee nach Westen zurück. Sie verließen das besiegte Berlin, um sich für die letzten Tage des Kampfes an die Elbe zu begeben.
In Berlin blieben die Gräber polnischer Soldaten an der Via Triumphalis der Hauptstadt des Deutschen Reiches zurück sowie die Standarten der Republik Polen, die im Herzen des preußischen Berlins gehisst worden waren.
Die Kapitulation Berlins
Berlin ist gefallen. Es gibt keinen Spittelmarkt, es gibt keinen Alexanderplatz, an dem die mehrstöckigen Gebäude der Gestapo, der Kauf- und Bürohäuser zu Schutthaufen zusammengesackt sind, die nicht über das 2. Geschoss hinausragen. Neben dem Zeughaus – die Ruinen der Universität. Gegenüber das ausgebrannte Opernhaus sowie das ausgebrannte Gebäude der St.-Hedwigs-Kathedrale. Die Friedrichstraße sieht schlimmer aus als damals die polnische Marszałkowska. Das Hotel „Adlon“ ist den schwarzen Flammen zum Opfer gefallen. Gleich daneben sind auf dem Brandenburger Tor, das übersät ist mit den Einschlaglöchern der Geschosse, von den acht Pferden der Quadriga nur anderthalb übriggeblieben. Die Victoria selbst, die die Zügel der Pferde in der Hand hielt, ist zu kleinen Klumpen grünspanfarbenen Blechs zerfallen.
An der Wilhelmstraße waren alle Häuser entweder ausgebrannt oder eingestürzt. Das Propaganda-Ministerium Goebbels – in Trümmern. Die Kanzlei Hitlers – zu zwei Dritteln von Geschossen und Granaten zerstört. Im Reichstag brannten noch die letzten Kellerräume. Vor dem Reichstag, der nun zum ersten Mal wirklich von Kommunisten angezündet worden war, das etwas beschädigte Bismarck-Denkmal, dem jedoch die Papierrolle mit der Verfassung des vereinigten Deutschlands von 1871 und der Feldherrenstab fehlen. An ihrer Stelle haben siegreiche Soldaten dem eisernen Kanzler zwei Schaufeln in die Hände gelegt. Bismarck verzog trotzdem nicht sein Gesicht, dafür glich der Tiergarten, auf den er schaute, mit nichts mehr dem alten Park. Die Bäume waren von den Geschossen zerfetzt, das Gras vom Feuer verbrannt, Wrackteile deutscher Flugzeuge, die von der Autostraße Richtung Charlottenburger Straße gestartet waren, wild durcheinander liegendes Alteisen von den Geschützen, Autos, Panzern – so sah der Kampfplatz im Herzen des einstmals so stolzen Garten Berlins aus. Vom Brandenburger Tor her blickend auf der rechten Seite, hinter der Spree, soweit das Auge reicht nichts als Ruinen, Ruinen, Ruinen …
Auf der linken Seite der in Trümmer gesunkene Potsdamer Platz und die Leipziger Straße, weiter die Potsdamer Straße und der Lützowplatz, der Nollendorf- und der Wittenbergplatz. An der Kurfürstenstraße ist von der polnischen Botschaft nichts stehen geblieben. Hinter dem Zoologischen Garten blieben von der Gedächtniskirche, die zu Ehren Kaiser Wilhelm I. errichtet worden war, nur riesige Steinbrocken und ein schräg abgebrochener Turm übrig.
Ich erhielt in diesen Tagen vom Chefredakteur der „Zwyciężymy“ [Wir werden siegen], Major Dorian Pronski, einen Jeep und den Kampfauftrag, den langen Weg zu beschreiben, den die polnischen Soldaten zu ihrer Siegesallee zurückgelegt hatten, zur preußischen Allee der Niederlage. Major Pronski, ein alter Freund von vor 13 Jahren – war vor dem Krieg einer der ständigen Korrespondenten der Lemberger Presse in Berlin – belohnte diesen meinen Bericht, indem er ihn am 8. Mai 1945, dem Tag der Kapitulation des Dritten Reiches, auf der ersten Seite der „Zwyciężymy“ brachte. Hier einige Auszüge:
Zwischen Spandau und dem Kaiserdamm finden wir auf dem Friedrich-Karl-Platz ein erstes Anzeichen für den heldenhaften Kampf der Archipowicz-Truppen: In zwei Sammelgräbern liegen 28 Soldaten und gleich daneben befinden sich drei einzelne Gräber: Oberleutnant Mroza, Oberleutnant Bachoro und Fähnrich Kicznany. Die Gräber sind mit grünen Zweigen und Blumen geschmückt. Weiße Kreuze, blutbefleckte Vierecksmützen, aus Steinen gelegte Schriftzüge: „Sie fielen auf dem Feld der Ehre. Für unsere und Eure Freiheit!“ Einen Kilometer weiter, zwischen den zerschossenen Häusern am Sophie-Charlotte-Platz, ein einsames Grab mit weißem Kreuz „Hier liegt der polnische Soldat Zdzisław Wiszowaty. Am 1. Mai 1945 fiel er auf dem Feld der Ehre. Er wurde 24.“
Wo der Kaiserdamm aufhört, beginnt die Berliner Straße. Vor uns das zur Ruine gewordene Gebäude des Deutschen Opernhauses. Die Deutschen räumen die Barrikaden weg. Die Spuren der verbissenen Kämpfe sind überall zu sehen. Auf dem Vordergiebel der Oper eine mit Kreide geschriebene Aufschrift: „Dies hier hat eine Einheit von Major Zwierzański erobert.“ Und ein bisschen weiter die wichtigsten Worte der polnischen Sieger: „Die Rächer Warschaus auf den Trümmern Berlins.“
Stolz lässt die Herzen der Polen überfließen. Dies ist nicht mehr das Wunschdenken von Generationen, sondern eine Seite in den Büchern der Geschichte, die mit dem Blut unserer Soldaten geschrieben wurde: Wir Polen haben zusammen mit unserem siegreichen Verbündeten, der UdSSR, Berlin erobert. Wir haben uns bis in das Zentrum des preußischen Berlins vorgekämpft. Der polnische Soldat hat auf unsere Standarten den Namen des größten Sieges geschrieben, den die Geschichte kennt.
Edmund Jan Osmańczyk, (1913–1989), polnischer Journalist, studierte in Warschau, Bordeaux und Berlin; 1932–1935 war er Redakteur der polnischsprachigen Zeitschrift „Młody Polak w Niemczech“ (Der junge Pole in Deutschland) in Berlin; 1935–1939 Leiter der Pressezentrale des Bundes der Polen in Deutschland; während des Zweiten Weltkrieges als Journalist im polnischen Untergrund tätig. 1945 und 1946 berichtete er als Korrespondent von der Potsdamer Konferenz und den Nürnberger Prozessen. Nach 1947 war er Auslandskorrespondent für den Polnischen Rundfunk, zwischen 1952–1961 und 1969–1985 Mitglied des Sejms und 1989 im Senat.