Auslöser hierfür war das von der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) eingebrachte Tierschutzgesetz (Pl.: Piątka dla zwierząt). Die Abstimmung über dieses führte jedoch zum Streit innerhalb der Regierungskoalition der Vereinigten Rechten (Zjednoczona Prawica), bestehend aus PiS sowie ihren Koalitionspartnern Solidarisches Polen (Solidarna Polska, SP) von Justizminister Zbigniew Ziobro und Verständigung (Porozumienie, P) von Jarosław Gowin. Bei der Abstimmung am 18.09.2020 stimmten 38 Abgeordnete des Regierungsbündnisses gegen das Gesetz, darunter alle 17 Abgeordneten von SP und 15 der PiS. Zwei Abgeordnete von P stimmten dagegen, die restlichen 15 Abgeordneten enthielten sich. Das Gesetz konnte nur durch die Stimmen der oppositionellen Bürgerkoalition (Koalicja Obywatelska, KO) und der größten Oppositionspartei, der Bürgerplattform (Platforma Obywatelska, PO) verabschiedet werden. PiS-Vorsitzender Jarosław Kaczyński reagierte darauf, indem er die 15 Abgeordneten, darunter den Landwirtschaftsminister Jan Krzysztof Ardanowski, in ihren Rechten als Parteimitglieder suspendierte. Ardanowski verlor daraufhin sein Ministeramt.
Nach dem der Streit über den Termin der Präsidentschaftswahl im Mai bereits fast zum Zerbrechen der Regierungskoalition geführt hätte, ist dies bereits die zweite existenzielle Regierungskrise innerhalb kürzester Zeit.
Wie stellt sich die politische Landschaft in Polen nach der neusten Kabinettsumbildung dar?
Kabinettsumbildung
Mit der neusten Kabinettsumbildung wurde die Anzahl der Ministerien nicht nur stark reduziert (von 20 auf 14), sondern Kaczyńskis bisher rein informell bestehende Macht auch institutionalisiert. Als Vizepremierminister ist er erstmals seit seiner Zeit als Premierminister 2006/2007 wieder Teil der polnischen Regierung. Das für ihn geschaffene „Komitee für Nationale Sicherheit und Verteidigung“ (pl.: Komitet do spraw Bezpieczeństwa Narodowego i spraw Obronnych) gibt ihm die faktische Kontrolle über das Justiz-, Außen-, Verteidigungs- und Innenministerium. In seiner Funktion entscheidet er de facto über alles: Zeitpunkt und Anlass der Sitzungen und Entscheidungen (bei Dissens entscheidet sein Votum). Über den von ihm einsetzbaren Sekretär des Komitees kann er zudem die Tagesordnung kontrollieren. Nach Kaczyńskis Willen trifft sich das Präsidium des Kabinettes, dessen Mitglied er nun ist, wöchentlich. Dieser formelle Machtzuwachs zeigt jedoch, dass das bisherige System der indirekten Kontrolle als einfacher Abgeordneter nicht mehr funktioniert.
Der Zustand der PiS – Erosion von Kaczyńskis Macht
Auch wenn die Suspendierung der 15 Abgeordneten als die höchste Disziplinarmaßnahme innerhalb der PiS einzustufen ist und den Verlust sämtlicher Parteiämter, Posten und Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb der Partei und der Fraktion bedeutet, scheint dieses Exempel nicht den intendierten Effekt zu haben. Ardanowski tritt weiterhin in der Öffentlichkeit als Kritiker des Tierschutzgesetzes auf und bei der Abstimmung über den überarbeiteten Gesetzesentwurf im Senat am 18.10.2020 stimmten ebenfalls sieben Senatoren der PiS gegen das Gesetz, so dass dieses erneut nur mit Stimmen der KO angenommen werden konnte. Eingeordnet in die politischen Entwicklungen der letzten Monate zeigt dies sehr deutlich, dass Kaczyńskis Macht auch innerhalb der eigenen Partei zunehmend schwächer wird. 2015/2016, auf dem Höhepunkt des „Guten Wandels“ (pl. Dobra Zmiana), als die PiS noch über die Mehrheiten in Sejm und Senat verfügte, wäre ein solches Verhalten kaum möglich gewesen.
Dabei muss darauf hingewiesen werden, dass die PiS mit dem Tierschutzgesetz gegen die Interessen einer ihrer größten Wählergruppen handelt.
Insgesamt zeigt die PiS, aber auch die Vereinigte Rechte in den letzten Wochen zunehmend Ermüdungserscheinungen. Sie scheint immer weniger dazu in der Lage zu sein, ihre Mehrheit im Sejm zu nutzen. Bei einer Abstimmung über ein Gesetz zur Bekämpfung der Coronakrise, das kurz vor der Sitzung des Sejms am Dienstag eingebracht worden war, verlor die Regierungsfraktion die Abstimmung über eine Vertagung der ersten Lesung mit 218 zu 207 Stimmen. 28 Abgeordnete der PiS hatten sich enthalten, darunter Kaczyński, Ziobro und Morawiecki. Öffentlich wurde dies als Behinderung der Pandemiebekämpfung dargestellt. Die Sitzung wurde daraufhin auf den 21.10. verschoben.
Die politische Stimmung in Polen
Trotz einer wiederholten Regierungskrise mit Kabinettsumbildung scheint das Ansehen der Regierung nicht maßgeblich beschädigt zu sein. Sie kommt weiterhin auf 36 bis 40 Prozent. Die politische Stimmung in Polen ist stark polarisiert. Die Frage der Unterstützung oder Ablehnung der Regierung zieht sich durch alle Bereiche und führt in demoskopischen Erhebungen zu nahezu dichotomischen Ergebnissen. Insgesamt ist jedoch ein stetig wachsender Teil der polnischen Bevölkerung unzufrieden mit dem Corona-Krisenmanagement der Regierung, insbesondere mit der Wirtschaftspolitik.
Zustand der Opposition
Insgesamt erscheint die polnische Opposition in ihrem aktuellen Außenauftritt fragmentiert und wenig dazu in der Lage zu sein, die Regierungskrise für sich zu nutzen. Außer der rechtsextremen Konföderation Freiheit und Unabhängigkeit (Konfederacja Wolność i Niepodległość) sind alle Oppositionsparteien vor allem mit sich selbst beschäftigt. Alle Oppositionsparteien kritisieren die Regierung, haben es jedoch nicht geschafft, programmatische Gegenangebote zu machen. Die liberalkonservative Bürgerplattform sowie die Linke sind durch interne Kontroversen oder Reorganisationsmaßnahmen faktisch paralysiert. Der sprunghafte Anstieg der Umfragewerte der KO auf zuletzt wieder 28 Prozent erklärt sich eher aus der generell steigenden Unzufriedenheit der Menschen in Polen mit dem Corona-Krisenmanagement der Regierung. Die Ablösung der Regierungskoalition bleibt auch weiterhin außerhalb des Spektrums der realistischen Möglichkeiten der Opposition.
Das neue Tierschutzgesetz polarisiert die politische Landschaft und führt zur drohenden Spaltung der Opposition. Insbesondere die „Polnische Bauernpartei“ (PSL) inszeniert sich als Anwältin der Landwirte, die gegen dieses Gesetz protestieren, das „antipolnisch“ und „schlimmer als das russische Embargo“ sei.
Nach der Annahme des überarbeiteten Gesetzesentwurfes im Senat mit Stimmen der Oppositionsparteien, drohte die PSL offiziell mit der Aufkündigung der Zusammenarbeit. Sie hatte beantragt, den Gesetzesentwurf in Gänze abzulehnen. Im Senat hat die Opposition derzeit eine Mehrheit von einer Stimme, die PSL stellt drei Senatoren. Diese offensichtliche Strategie, der politischen Marginalisierung zu entgehen, geht noch nicht auf. Bei Umfragen schwankt die PSL zwischen zwei und drei Prozent. Als einzige Gewinnerin dieser kontroversen Debatte kann die Konfederacja angesehen werden. Ihre Umfragewerte steigen stetig und es gelingt ihr zunehmend, ihre Basis um unzufriedene Landwirte, Coronaskeptiker und von wirtschaftlicher Not Bedrohte zu erweitern.
Situation der größten Oppositionsparteien
Die Arbeit der Bürgerplattform ist von interner Konsolidierung geprägt. Der Konflikt zwischen den Lagern um den ehem. Parteivorsitzenden Grzegorz Schetyna und den derzeitigen Parteivorsitzenden Bory Budka spitzte sich mit den Wahlen zum Fraktionsvorsitz von Sejm und Senat zu. Im Rahmen der angekündigten programmatischen „Herbstoffensive“ wurden mehrheitlich lediglich die bereits bekannten Postulate wiederholt.
Die Regierungskrise wurde auch in der Linken von internen Angelegenheiten überlagert. Die angekündigte Vereinigung der Demokratischen Linksallianz (SLD) und Frühling (Wiosna) steht immer noch aus. Grund hierfür ist, dass das neue Statut der SLD noch nicht juristisch anerkannt wurde. In diesem hatte sie ihren Namen bereits vor einigen Monaten in „Neue Linke“ (Nowa Lewica) geändert, wie die neue Partei heißen soll. Daher wurde der für den 12. Dezember geplante Vereinigungsparteitag auf unbestimmte Zeit verschoben. Die angekündigten Programmtreffen sind angelaufen, am 22. November soll in Warschau ein Abschlusstreffen stattfinden, auf dem die inhaltliche Ausrichtung für die nächsten drei Jahre festgelegt werden soll. Die dritte Partei der oppositionellen Linken, „Gemeinsam“ (Razem) von Adrian Zandberg lehnt einen Beitritt zu dieser neuen Partei noch ab.
Obwohl politisch eigentlich der Regierung am nahestehendsten, tritt die rechtsextreme Konfederacja als eine ihrer dezidiertesten Kritikerinnen auf, gerade nach der neusten Regierungskrise. Ihre Kritik bezieht sich vor allem auf die Restriktionen im Zuge der Coronapandemie und insb. der Folgen der Coronamaßnahmen für die polnische Wirtschaft sowie das Tierschutzgesetz. In demoskopischen Erhebungen sind Anhänger der Konfederacja genauso unzufrieden mit der Regierungspartei wie die der anderen Oppositionsparteien. Die Heterogenität dieser Formation spiegelt sich darin wieder, dass verschiedenste Wählergruppen vom Libertären über Coronaskeptiker bis zum erzkatholischen Nationalisten angesprochen werden. Politiker der Konfederacja betonen, dass die Zeit der faktisch linken PiS nun vorbei sei und die der Konfederacja, einer echten rechten und konservativen Kraft, gekommen sei. In Umfragen liegt sie konstant zwischen sechs und zehn Prozent.
Nach der Effektivität der Oppositionsparteien gefragt, antworteten 12,5 Prozent mit Konfederacja und 12 Prozent mit KO. 42 Prozent sind der Meinung, dass keine der Oppositionsparteien effektiv ist und 21,4 Prozent sahen sich außer Stande, die Arbeit der Oppositionsparteien zu bewerten. Diese aktuelle Umfrage der Tageszeitung Rzeczpospolita zeigt sehr deutlich die generell negative bis gleichgültige Bewertung der Opposition durch die Mehrheit der polnischen Bürger.
Polska 2050 und Wspólna Polska
Die mit Spannung erwartete Gründung der Bewegung des Präsidentschaftskandidaten Rafał Trzaskowski „gemeinsames/geeintes Polen“ (Wspólna Polska) anstelle von „Neue Solidarität“ (Nowa Solidarność) erzeugte nur ein marginales Echo und brachte programmatisch kaum etwas Neues. Ergänzt wird diese durch eine Gewerkschaft für Selbstständige und prekär Beschäftigte namens „Neue Solidarität“ (die einzige wirkliche politische Innovation) sowie die „Stiftung Rafał Trzaskowskis“. Auch die Anknüpfung an den Mythos der Solidarność der 1980er Jahre wirkt wenig originell. Ihre rasant steigende Mitgliedszahl von derzeit 16.492 (Stand 21.10.), bereits nach einer Woche hat sie halb so viele Mitglieder wie die PO mit ca. 32.000 (Stand 2020), lässt jedoch eine eventuelle Zukunft der Bewegung erwarten. Derzeit ist sie zwar nichts Innovatives, aber keinesfalls ein politischer Fehlstart. Sie kann bis zu 15 Prozent Nichtwähler mobilisieren. Die Stimmung in der Bevölkerung ihr gegenüber ist jedoch negativ. Innerhalb der PO-Führung überwiegt Skepsis gegenüber der Bewegung.
Organisatorisch bereits deutlich weiter ist Polen 2050 (Polska 2050) des ehem. Präsidentschaftskandidaten Szymon Hołownia. Als im Angesicht der Regierungskrise vorgezogene Neuwahlen in den Bereich des Möglichen rückten, wurden die Anstrengungen zur Parteigründung intensiviert. Im Sejm vertritt die von der Linken übergetretene fraktionslose Abgeordnete Hanna Gill-Piątek die Partei. Hołownia betont immer wieder, kein Teil der Bürgerkoalition sein zu wollen und definiert seine Partei als gleichwertigen Partner. Trzaskowski kritisierte er für den zu späten Zeitpunkt der Gründung seiner Bewegung, sucht öffentlich jedoch die Zusammenarbeit mit ihm. Medienberichten zufolge soll es Gespräche zwischen Polska 2050 und der PSL gegeben haben. Die Bevölkerung ist gegenüber der politischen Initiative generell positiv eingestellt. Nach Spitzenwerten in den Umfragen von ca. 15 Prozent, hat sich die Formation nun bei 8 bis 9 Prozent stabilisiert. Auch wenn sie sich als fester Teil der politischen Landschaft etabliert hat, deutet derzeit nichts darauf hin, dass Polska 2050 nicht wie zahlreiche andere temporär sehr erfolgreiche Bewegungen und Parteien in den letzten Jahren bis zur nächsten Parlamentswahl wieder bedeutungslos werden wird.
Aktuell versucht Polska 2050 weitere Abgeordnete zu gewinnen, um auch offiziell als Formation im Sejm vertreten zu sein. Der designierte Parteichef Michał Kobosko ist davon überzeugt, dass es noch in diesem Jahr möglich sein wird, einen eigen Abgeordnetenzirkel zu gründen.
Ausblick
Insgesamt ist es der polnischen Opposition erneut nicht gelungen, eine existenzielle Krise der Regierung für sich zu nutzen. Die größten Gegner der PiS sind daher auch weiterhin ihre Koalitionspartner sowie das durch die zunehmende Erosion von Kaczyńskis Autorität entstehende Machtvakuum innerhalb der Partei. Kommt es nicht zum Bruch der Regierungskoalition, so wird die Opposition in den nächsten Jahren kaum eine Möglichkeit haben, ihren politischen Einfluss zu vergrößern. Abzuwarten bleibt, wie sich Polska 2050 und Wspólna Polska entwickeln werden. Auch die Zukunft der Oppositionsmehrheit im Senat bleibt derzeit ungewiss. Es bleibt abzuwarten, ob die Regierungskoalition sich wieder konsolidiert oder weiterhin im latenten Krisenmodus verharrt. Zumindest haben Solidarna Polska und Porozumienie ein Interesse am Erhalt dieser Koalition, da sie alleine bei der nächsten Parlamentswahl an der 5-Prozent-Hürde scheitern würden.
Jonas Kolecki, 21.10.2020