Noch Ende April warnte Sylwester Marciniak, Chef der Nationalen Wahlkommission, in der Wochenzeitung Wprost davor, dass „in vollem Umfang freie Wahlen“ unter den gegebenen Umständen nicht möglich seien. Knapp eine Woche später und nur drei Tage vor dem geplanten Wahltermin war schließlich beschlossene Sache, was eine Mehrheit der Polen ohnehin für unausweichlich hielt, die Verschiebung der Präsidentschaftswahlen auf einen späteren Zeitpunkt, mutmaßlich in den Sommer.
Vorausgegangen war der finalen Entscheidung ein wochenlanger Grundsatzstreit, der bisweilen die Regierungskoalition in Warschau zu sprengen drohte. Aufgrund der notwendigen Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Infektionen, die auch in Polen weitreichende Kontaktbeschränkungen und Einschränkungen des öffentlichen Lebens bedeuten, erschien es nahezu unwirklich, am geplanten Wahltermin, dem 10. Mai, festzuhalten. Nichtsdestotrotz beharrte die regierende PiS lange auf einer regulären Durchführung der Wahl, um schließlich mit dem sogenannten Briefumschlag-Gesetz die Grundlage für eine kurzfristige Änderung des Wahlrechts hin zu einer reinen Briefwahl vorzuschlagen. Dieses Gesetz wurde von Staatsrechtlern umgehend als verfassungswidrig angesehen.
Der amtierende Präsident Polens, Andrzej Duda, Kandidat der PiS für eine zweite Amtszeit, führt die Umfragen an und darf auf seine Wiederwahl hoffen. Gleichzeitig verschafft ihm sein Amt eine hohe Medienpräsenz, gerade in der gegenwärtigen Krise. Das liegt zwar in der Natur der Sache, wird von der Opposition aber als Beispiel für den ungleichen politischen Wettbewerb im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen angeführt. Schließlich war an einen regulären Wahlkampf aufgrund der coronabedingten Einschränkungen nicht zu denken. Zudem war bis wenige Tage vor dem geplanten Wahltermin nicht geklärt, wie eine reine Briefwahl genau durchgeführt werden sollte und ob etwa alle Wahlunterlagen rechtzeitig zugestellt werden könnten. Je stärker das Beharren der PiS auf dem Wahltermin wurde, desto größer fiel auch in der polnischen Bevölkerung die Wahrnehmung der Auseinandersetzungen als politische Farce aus, wurden die Stimmen lauter, die eine Verschiebung forderten. Der Unmut reichte gar soweit, dass Aufrufe zum Wahlboykott erfolgten, durch alle früheren Staatspräsidenten wie den Friedensnobelpreisträger Lech Wałęsa und alle vormaligen Premierminister wie den ehemaligen Präsidenten des Europäischen Rates, Donald Tusk.
Unter dem Eindruck der immer stärkeren Proteste gegen den Wahltermin, verweigerten nun gar Teile der PiS-Fraktion dem Briefumschlag-Gesetz ihre Zustimmung und der ehemalige Vize-Premier Jarosław Gowin, Vorsitzender der konservativen Partei Porozumienie (Verständigung), die als Koalitionspartner mit PiS regiert, rang deren Vorsitzendem Jarosław Kaczyński eine Lösung ab, die nun doch eine Wahlverschiebung zur Folge hat, aber trotzdem nicht unumstritten ist. Um die Mehrheit für das Briefumschlag-Gesetz zu sichern, musste Kaczyński einem politischen Trick zustimmen: Der Wahltermin wird zwar nicht verschoben, die Wahl aber nicht abgehalten und entsprechend im Nachhinein vom Obersten Gerichtshof für ungültig erklärt. Auf diese Weise soll ein späterer Termin zustande kommen, bei dem dann tatsächlich ausschließlich per Brief gewählt werden soll. Eine Überprüfung dieses Vorgehens und auch des Briefwahl-Gesetzes durch das polnische Verfassungsgericht muss die PiS wohl nicht mehr fürchten.
Was klingt wie eine Verabredung aus der Netflix-Serie House of Cards, dürfte in erster Linie den Fortbestand der Regierungskoalition gesichert haben, zumindest kurzfristig. Mittel- bis langfristig sind die Folgen der politischen Auseinandersetzungen im Frühjahr 2020 kaum abzuschätzen, da sie auch einen Präzedenzfall schaffen. Mit der Einigung zwischen Kaczyński und Gowin und dem Druck aus Opposition und Bevölkerung ist klar, dass PiS nicht widerstandslos durchregieren kann. Die Koalitionspartner haben die Möglichkeit, das Geschehen mindestens in relevanter Weise mitzuprägen. Öffentlicher Druck bleibt für die Opposition ein wirksames Instrument. Doch ist es zweifelhaft, ob sdie Opposition angesichts der erzwungenen Aktivitätseinschränkungen und der Dauerpräsenz der PiS in den regierungsnahen Staatsmedien wieder vernehmlich und politisch angemessen wirksam werden kann.
Es bleibt abzuwarten, ob auch in anderen entscheidenden Fragen der gegenwärtigen polnischen Politik vergleichbarer Druck zum Tragen kommen wird, etwa bei der heftig umstrittenen geplanten Justizreform, bei der geplanten Verschärfung des Abtreibungsrechts oder in der Diskussion um sogenannte „LGBT-freie“-Zonen, zu denen sich diverse polnische Städte und Gemeinden – im Widerspruch zur polnischen Verfassung und mehreren Artikeln des EU-Vertrages – erklärt haben.
Am 10. Mai 2020 werden in Polen keine Präsidentschaftswahlen stattfinden. Letztlich blieb der Regierungskoalition in Warschau wohl keine (andere) Wahl.
Felix Bethmann